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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,2.1929

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Heft 12 (Septemberheft 1929)
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Petzet, Wolfgang: Zum Drama der Gegenwart: Betrachtungen bei einigen Stücken jüngster deutscher Dramatik
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Rötzel, Karl: Anton Tschechoff (1860-1904): zur 25. Wiederkehr seines Todestages
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https://doi.org/10.11588/diglit.8886#0429

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Kampfes um den Mythos. Der alte Mykhos aber ist tot; Ernft Lissauers
„Das Weib des Iephta" (Oesterheld L Co., Berlin) lehrt es: nie vermögen wir
die Opferung eines Kindes zu verwinden; solches Geschehen — noch so sehr
gemildert — macht den Vorgang aus einem mykhischen zu eincm ethnologi-
schen. Der moderne Mythos, wie ihn u. a. Talhoss (vgl. meine Glosse Seite
204 des Iahrganges) erstrebt, ist bisher noch immcr Idee an sich geblieben
nnd an seiner Inhaltslosigkeit gescheitert. Mittcn unter uns lebt heute nur
der christliche Mythos, aus dem Max M el ls Bühnenspiele (vgl. Seike äoZ,
Iahrgang 41) ihre einzigartige Krask ziehen, auch für den, der nicht ihres
Glaubens ist.

Anton Tschechoff

(1860—igo^)

Zur 2Z. Wiederkehr seineö Todestages
Bon Karl (tkötzel

ä>Rum ein rnssischer Dichker ward schon bei Lebzeiten mehr geliebt als
*^-2lnton Tschechoss, der große Geschichtsschreiber der an der Nvt ihres
Bolkes und der eigenen Ohnmachk dauernd erkrankten, wurzellos gewordenen
und in schwächlichen Ästhetismus versallenen russischen Gesellschaft der letz-
tcn zwei Iahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts. Die „überflüssigen
Geistesmenschen" vom Beginn des vergangenen Iährhunderks — Onegin,
Petschorin und Tschazki — waren zwar nicht gleichgülkig geworden — das
kann der Russe gar nicht, denn er verliert niemals die Nichtung —, wohl aber
müde, hossnungslos. „O wenn man doch nicht zu leben brauchte!" rust einer
dcr Helden von Tschechosss Dramen aus. Das war das erlösende Wort!
Hier sah sich der damalige russische Gesellschaftsmensch (im soziälen Sinne)
gedeutet in seines Wesens Kern. Sich wiedererkennen heißt sich erneuern.
Man muß — wie Lassalle sagt — aussprechen, was ist. Dann kommt die
Abwehr ganz von selbcr. Hier sprach das erlösende Wort ein Mann, der,
selber ganz und gar kein Schwächling, kühn und hilföbereit ins Leben ein-
griss, wo immer es nach ihm ries. Und dabei war dieser geistesstarke Mann,
dcr es ferkig brachte, als Dichter jcder Hoffnungslosigkeit ins 2luge zu schauen
und dabei im wirklichen Leben unentwegt sür Volksgesundheit und Volks-
ausklärung einzutreten (als praktischer 2lrzt, als 2Zegründer von Kranken-
häusern, Schulen, Bibliotheken und anderen Bildungsanstalten), srüh schon
insolge der Entbehrungen seiner IugendzeiL an dem tödlichen Leiden erkrankt,
das ihn mit vierundvierzig Iahren hinwegraffte. Typisches russisches Intelli-
gentenlos! Hätte aber Tschechoff nicht in allcm den russischen InLelli'genken
verkörpert, in sciner reinsten damaligen Gestalt, so hätte er gar m'cht solchen
Einfluß aus 'die damalige rüssische Gesellschaft gewinnen können, die schon
scit mindestens einem Mcnschenalter unter der ungeschriebcnen, abcr bedin-
gungslos befolgken Zensur der russischen Inkclli'genz stand.

Tschechoff war indes — das machk seine Einzigartigkeit aus — russischer
Intelligent bloß sciner geisiigen, nicht seiner polikischen Halkung nach. Zeit-
lcbens lehnte er es ab — und dazu gehörke damals überlegener bürgerlicher
Mut —, sich irgendwie in den Dienst der polikischen Propaganda, der Revo-

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