XXXXII.7LSK6LN6
KnuL Hamsun*
(Zum siebzigsten Geburkstage, August 192g)
Von OLLo Stoessl
uweilen versährt die Natur beim Menschen wie bei einem Baum. Sie
^)braucht zu seiner vollen Größe sein volles Alker. Das durch den Geist
getriebene Menschenwesen kommt selten zu hohen Jahren, aber dann schcint
eine Gerechtigkeit erfüllt. Ein geborener Riese ist erwachsen. Um cincn
solchen Mann sind die anderen ringsum zuleHL verschwunden.
Zeder wird mit einer llnzahl ausgesät und geht mit ihr aus. Die Zivili-
sation besiht ihren Dichterwald, obschon man nichk gerade sagen kann, daß
sie ihn gut verwaltet. Man sieht den Baum vor lauter Wald nicht. 2lber
die Zivilisakion rottet auch wieder ihren Wald aus, sie machk Papier aus
ihm und aus Papier wieder Makulatur und aus Makulatur wieder Wald —
aus Papier, aus dem Papier. Hunderte sinkeu, einer bleibt. Kein Zusall,
daß er es gerade ist, den die 2lrt ebenso verschonk wie der Wurm, daß er
schließlich auf seiner Höhe allein steht.
Was alles ist seit 185g, dem Geburksjahr Knut Hamsuns, in der Welt vor-
gegangen! Sie hat Geschichte gemachk, erlitten, Zivilisation erweiterk, gezeugk,
gemordet, ihre Seuchen, ihre Triumphe erlebt, Kriege angezettelt, Völker-
und Einzelmeinungen erhoben und wieder vertilgt, Jdeen ausgebrütek, große
Männer gefeiert und schon halb oder ganz vergessen, mik und ohne Kritik
hat sie ihre eigenen Kinder ausgefressen — der alte Saturn. Dem überleben-
den Baum mag es cin Gewimmel unkerhalb scheinen, gemacht und abge-
macht. Nur was oberhalb ist: Himmel und Sterne, nur was innerhalb ist,
gilt: das eigene Herz. Die Geschichte der Tatsachen, der Nationen, der Jdeen
wird dem Dichter wesenlos. Nnr die Geschichte der immer anderen, inuner
neuen Geschöpfe, die Geschichte der Menschennatur besteht. Er ist, kennk und
will nur Naknr. Der feinste und geheimste Ertrakt, der Geist eines Dichters,
sein Blut, ein „besonderer Saft", Kraft und Substanz der Schöpfung selbst,
gestaltet und beseelt ihn und macht ihn gestalten. Dieser Einzige, der als
Geist auf die Erde kommt, darf und muß lange leben, um ganz Natur zu
werden, hat er doch Ereignisse, Formen, Widersprüche, Land und Leute,
Zeiten, Geschichte, Ideen auf ihre Einheit und Wahrheit zurückzuführen: den
Menfchen auf die Geschöpflichkeit.
Immer tresten die merkwürdigen Worte Wilhelms von Humboldk über
Goethe und Schiller die Souderung zweier dichterischer, menschlicher Wesen-
heiken. Er vergleicht die beiden als Natur und Freiheik.
Oeulsche Ausgabe der Werke bci Albert Langen. München.
281
Augusthefl igag (XXXXII, 11)
KnuL Hamsun*
(Zum siebzigsten Geburkstage, August 192g)
Von OLLo Stoessl
uweilen versährt die Natur beim Menschen wie bei einem Baum. Sie
^)braucht zu seiner vollen Größe sein volles Alker. Das durch den Geist
getriebene Menschenwesen kommt selten zu hohen Jahren, aber dann schcint
eine Gerechtigkeit erfüllt. Ein geborener Riese ist erwachsen. Um cincn
solchen Mann sind die anderen ringsum zuleHL verschwunden.
Zeder wird mit einer llnzahl ausgesät und geht mit ihr aus. Die Zivili-
sation besiht ihren Dichterwald, obschon man nichk gerade sagen kann, daß
sie ihn gut verwaltet. Man sieht den Baum vor lauter Wald nicht. 2lber
die Zivilisakion rottet auch wieder ihren Wald aus, sie machk Papier aus
ihm und aus Papier wieder Makulatur und aus Makulatur wieder Wald —
aus Papier, aus dem Papier. Hunderte sinkeu, einer bleibt. Kein Zusall,
daß er es gerade ist, den die 2lrt ebenso verschonk wie der Wurm, daß er
schließlich auf seiner Höhe allein steht.
Was alles ist seit 185g, dem Geburksjahr Knut Hamsuns, in der Welt vor-
gegangen! Sie hat Geschichte gemachk, erlitten, Zivilisation erweiterk, gezeugk,
gemordet, ihre Seuchen, ihre Triumphe erlebt, Kriege angezettelt, Völker-
und Einzelmeinungen erhoben und wieder vertilgt, Jdeen ausgebrütek, große
Männer gefeiert und schon halb oder ganz vergessen, mik und ohne Kritik
hat sie ihre eigenen Kinder ausgefressen — der alte Saturn. Dem überleben-
den Baum mag es cin Gewimmel unkerhalb scheinen, gemacht und abge-
macht. Nur was oberhalb ist: Himmel und Sterne, nur was innerhalb ist,
gilt: das eigene Herz. Die Geschichte der Tatsachen, der Nationen, der Jdeen
wird dem Dichter wesenlos. Nnr die Geschichte der immer anderen, inuner
neuen Geschöpfe, die Geschichte der Menschennatur besteht. Er ist, kennk und
will nur Naknr. Der feinste und geheimste Ertrakt, der Geist eines Dichters,
sein Blut, ein „besonderer Saft", Kraft und Substanz der Schöpfung selbst,
gestaltet und beseelt ihn und macht ihn gestalten. Dieser Einzige, der als
Geist auf die Erde kommt, darf und muß lange leben, um ganz Natur zu
werden, hat er doch Ereignisse, Formen, Widersprüche, Land und Leute,
Zeiten, Geschichte, Ideen auf ihre Einheit und Wahrheit zurückzuführen: den
Menfchen auf die Geschöpflichkeit.
Immer tresten die merkwürdigen Worte Wilhelms von Humboldk über
Goethe und Schiller die Souderung zweier dichterischer, menschlicher Wesen-
heiken. Er vergleicht die beiden als Natur und Freiheik.
Oeulsche Ausgabe der Werke bci Albert Langen. München.
281
Augusthefl igag (XXXXII, 11)