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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,2.1929

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Heft 8 (Maiheft 1929)
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Tribünne
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https://doi.org/10.11588/diglit.8886#0148

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Tribüne

„Heutzukage"

Von Albert TrenLini

(jie Welle, nuf öer hcute die Erde schaukelt, lst keine der Vertikale und der
^^Oualität, sondern der Hori'zontale und öer Quanti'tät. Ausdehnung, Weitung,
Entgrenzung des inenschlichen SchauplatzeS und, gleichzei'tig damit, Einebnung der
sogenannten „Unkerschiede" bei Ausdrängung eines möglichst universal geltenden Ein-,
Gleich- und Mittelmaßes — diese Anstrengungen macht die Welle als horizontale.
Sie baut nicht zusammenbindend, steigernd und türmend empor, sondern gießt lösend,
entspanncnd und gleichmachend aus. Keine Gipfellandschaft mehr, die sich von streng
krastökonomisch gedrängtem und bewegtem Feld auS nach obenhin ausstasselt; sondern

— Ebene, die sich nach allen Seiten hin gleich anspruchslos ausschwendet. Sobald
aber einmal solches geschieht, die „Unterschiede" — und das sind die „Qualitäten"
aller Art —- sich im Rauch der entgrenzten Horizonte auslösen, scheint nur noch ge-
häuste Quantität — also Summierung -— dem jähe geplünderten Menschenbewußt-
sein Ausgleich und Ersatz schassen zu können.

Das Problematische dieses Wellencharakters wird für uns praktisch dadurch nicht ge-
mildert, daß ihm wahrscheinlich ein Gesetz des Weltgeschehens zugrundeliegt, gegen dessen
Gewalt der Mensch relativ ohnmächtig ist. Denn sowohl der übertriebcne Freuden-
lärm der Majorität, wie das tragische Leid der Minorität von heute leitet sich einzig
von diesem Wellenereignis her. Wo diese „Zeit" laut und überschwänglich gepriesen
wird: dort werden eben die Niederreißung der Grenzen, die Erschließung der Räume.
die Enteinsamung des Abgelegenen, die llberwindung der Entfernungen und die env
rassende, entvolkende, entpersönlichende Unitarisierung des Menschen und seiner
Lebensformen — also: Horizontales! — und die Ri'esendimension, Unzahl und Un-
summe — also: Quantität! — verhimmelt. Wo diese „Zeit" aber verdammt wird:
dort wird die sast schon fanatische Preisgabe von Vertikale und Qualität verurteilt.
Es gehört dabei durchaus zum Wesen dieser Tage, daß sich die Züge der beiden
Prinzipe in ihrem kaleidoskopalen Antlitz oft völlig vermischen. Bei der rauschhaften
Besessenheit, mit der Ebene und Masse sich heute ausbieten und anpreisen, und dem
geängstigten Notschrei, mit dem Gipfel und Jndividuum darauf antworten; aber
auch bei der Hekatombe von Menschenopsern, die von den Einen mit geradezu atem-
beklemmender Selbstverständlichkeit — so, als handelte es sich um vertretbare Sachen

— von den Andern aber mit dem Grimm, ja dem Wahnsinn von Märtyrern gebracht
werden, — in diesem höllischen Ourcheinander verwischen sich auch dem objektivsten
Betrachter die Rollen der Kämpser und der Bekämpften. Eine Welt, die allüberall,
und je auf beiden Seiten, aus den Fugen ist, tut sich ihm auf, er weiß nicht mehr,
wer hak Recht und wer Unrecht, versteht nicht mehr, daß die erbittertcn Gegenhiebe
der vergewaltigten Verrikale und Qualität: starrste Qrthodoxie, rohester Nationalis-
mus, rücksichtsloseste Diktatur, störrischestes Zurückgreifen aus die „früheren" Ordnun-
gen und Werte — nicht mehr als herausgesorderte Reaktionen bedeuten, und erinnert
sich, sast schon selber um Mark und Mal und um den Mut zum Anlegen eindeutiger
Maßstäbe gebracht, verstehend der Stelle bei Jesaja, wo es heißt: „Wehe denen, die
Böses gut und Eutes böse heißen; die aus Licht Finsternis und aus Finsternis Licht,
und auü Sauer süß und aus Süß sauer machen!" Und in der Tat: es bedarf der
jtandhaftesten Unbestechlichkeit, um vor diesem anarchischen Jneinanderfließen aller
Gegensätze das Auge wieder srei, rein und urteilstapfer zu bekommen. Dann, srei-
lich, vermag es die zwei Parteien auch schon gar bald wieder ausei'nanderzuhalten.
Hier, in ebenso überwältigendem Übermaß wie Verslachtheit: die horizontale Ouan-

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