Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,2.1929

DOI issue:
Heft 7 (Aprilheft 1929)
DOI article:
Tribünne
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.8886#0065

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
des Heftes „Die deutsche Dichtung der Gegentvart" drei Bände von dnrchschnittlich
je Zoo werden mußten. „Jch gedachte," schreibt Bartels im Vorwort 1922, „vor
allem die Modetalente des Tages und die bloßen Unterhalter mehr zu berücksichtigen,
damit das Publikum die vollständige blbersicht und jede gewünschte Auskunft bei mir
fände." Das mag damals ein Bedürfnis gewesen sein; Hand in Hand mit der Jn-
flation unserer Währnng ging eine starke Jnflation des Lesens. Darum wurde öer
dritte Band „Die Jüngsten" der größte Erfolg, den ein literarhistorisches Werk in
Deutschland je errang: nach kaum drei Monaten waren öie 10 000 Stück vergriffen.
Ob jedoch dies Bedürfnis auch jetzt noch, vor allem, ob es noch im gleichen Maße
besteht, bezweifle ich stark. Denn die Signatur der Zeit ist längst nicht mehr eine
Jnflation des Lesens, sondern dessen notorische Verkümmerung. Und die Bubi-
köpfe, die sich noch Ullsteinbände leisten, schlagen nicht erst bei Bartels nach, ob
sie zwischen Büro und Zug am Kiosk noch diesen gelben Band erstehen sollen oder
einen anderen.

Barkels schritt auf seinem gekennzeichneten Wege von Auflage zu Auflage der
kleinen Ausgabe unbeirrt weiter, und der dritte Band der großen will erst recht
beides geben: Darstellung und Bio-Bibliographie. Entsprechend seinem größeren
Format und Umfang wird das Mißliche dieseS Verfahrens nur noch auffälliger.
Von Lebensläufen und Werken von Autoren, deren Namen auch dem Fachmann
unbekannt zu sein pflegen, bringt Bartels mehr, als je vor ihm ein Literaturhistoriker
versucht hat. So oft ich dem Briefboten die Nachnahme für eine neue Liefernng des
Deutschen Literatur-LexikonS von Wilhelm Kosch bezahle, bedauere ich im stillen,
daß Bartels daran nicht mitarbeitet, es wäre sicher unendlich genauer und reich-
haltiger: Bartels' Kenntnis auch der kleineren Talente, der Mitläufer, ist wirklich
erstaunlich. Aber was in einem Literaturlerikon eine Stärke wäre, wird, angewandt
auf eine Literaturgeschichte, zu einer Schwäche, und diese Schwäche wird um so
fühlbarer, je mehr der Grundsatz, auch die Namen dritten, fünften Ranges zu
nennen, auf die schon weiter zurückliegende Literatur angewandt wird. Dann wird
die Gefahr, daß man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, zum Ereignis.
Was man bei den Lebenden noch mit einem Bedürfnisse des Publikums rechtfertigen
kann, eine Orientierung auch in betreff der „Modetalente und bloßen Unterhalter",
ist doch für die Vergangenheit nicht nur nicht nötig, es ist total überflüssig und
Ballast. Mehr: es ist schädlich. Denn es widerstreitet dem Bedürfnisse der Bildung.
Die großen Linien der Entwicklung können gar nicht klar und scharf genug heraus-
gearbeitet werden. Jn meiner Auswahl aus Scherer („Von Wolfram bis Goekhe")
bin ich bewußt noch einen großen Schritt weiter gegangen, und habe nur das
Siebengestirn: Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Lnther,
Lessing, Herder, Schiller, Goethe herausgenommen. Als Scherers Literaturgeschichte
erschien, bewunderte man seine Übergänge und Einschaltungen, in denen ein unge-
heures Wissen jeweils virtuos zusammengepreßt war. Diese Seite seines Werks
ist rettungslos veraltet, und wenn wir diese einst so überschätzten Partien heuke
lesen, haben wir das Gefühl: das macht jetzt jedes Mitglied eines germanistischen
Seminars besser. Damals konnte nur Scherer sie schreiben. Warum schreibt sie
Bartels heute noch? Kein Leser liest sie. Jeder überschlägt sie. Es gibt Stern-
Atlanten für Astronomen und Sternkarten für den Freund deö gestirnten Himmels.
Auch der Literarhistoriker sollte nur die Leute erwähnen, die man noch mit freiem
Auge sieht.

Nichts wäre verdienstlicher, als wenn Bartels einen richtigen Literaturkalender der
Lebenden zusammenstellte, mit knappcn Urteilen, Zeichen und Abkürzungen, von
mir aus auch I (Jude) HJ (Halbjude), nachdem ihm so ungeheuer viel daran
liegt. Und es wäre eine reizvolle, dankbare Aufgabe, wenn er eine Geschichte der
Mode-, bloßen Unterhaltungs- und sogenannten Schundliteratur schriebe. Aber

53
 
Annotationen