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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,2.1929

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Heft 9 [Juniheft 1929)
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Popp, Joseph: Paul Schultze-Naumburg: zum 60. Geburtstag
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https://doi.org/10.11588/diglit.8886#0174

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tionäre. Was Christus gegenüber der Synagoge, Luther gegenüber der alten
Kirche, ein Freiherr vom Stein gegenüber dem preußischen Staat gewollk und
getan haben, ist im Kern Zerstörung des Alten und damit Revolutionäres
zuguusten eines Nenen — nicht die Wiederherstellung eines alten Zustandes
in geläuterter Form. Was SchulHe-Naumburg in der Baukunst erstrebte
und erstrebt, ist ein Zurückgreifen auf die bürgerliche Bauknnst um 1800:
gegenüber einem wahrhast verbildeten Kunstgeschmack eine läuternde Tak, ein
großer Dienst an die Zeik, aber nichts an sich Rkeues, wie ja auch sein eigenes kul-
tiviertes Bauschaffen sich jetzt noch in jenen Formen bewegk. Andcrseits war
SchulHe-Naumburg mit der Forderung des Einfachen und Nätürlichen nicht
der einzige: der Wiener Llrchitekt Otto Wagner hat schon 1895 seiner
„Modernen Architektur" Ähnliches angeregt und zugleich neue Wege zu dessen
Erfüllung gewiesen. Legt man den Ton auf die Berbesserung der Baugesin-
nung und will man dies um jeden Preis als „Reform" bezeichnen, könnte
man von Schnltze-IIaumburg als einem Reformator gegenüber den eingerisse-
nen Mißständen reden; aber auch hier käme das Wort in einem fülligeren
Sinn Männern wie O. Wagner zu, die für eine konsequente Neu-Gestalkung
eingetreten sind. Schultze-Naumburg ist im Wesen eine durchaus konservative
Matur und schon deshalb einer revolutionären Tat, wie sie in jeder starken
Reformation liegk, nicht sähig. Das ist keine Disqualisikation: die konserva-
kiven Mächte haben in der Kunst und im Leben durchaus ihre Berechtigung;
sie sind wertvoll und nötig für die Verbindung mit der Vergaugenheit, sür
die Erhaltung der Tradition und des Kulkurzusammenhangs. 2lber ohne die
großen Revolukionen im religiösen, wissenschaftlichen, politischen wie geistigen
Leben überhaupt gäbe es keine Weiterentwicklung. Das Bedentende der Lei-
stung Schultze-Naumburgs und sein bleibendes Berdienst liegen in einer wahr-
haft besreienden Tat, die erst getan werden mußte, um das Neue keimsähig
zu machen: darin, daß er gegenüber einer in übertriebener und salscher Dckora-
tionssucht, in Veräußerlichung befangenen Kunst aus die Schönheit und den
Sinn des Einfachen und Schlichten hingewiesen, daß er eincm üblen bourge-
oisen Geschmack den gesunden, kultivierten Bürgersinn srüherer Zeiten als
Spiegel vorhielt und in der Gegenüberstellung von guten und schlechten Bei-
spielen eine wahrhafk schlagende Methode gesunden, um ohne viel Worte die
Schafe von den Böcken zu scheiden. Das Geschick und die Hingabe, mit der er
in solchem Sinn alle Gebiete des Bauens berücksichtigte, war eine wahrhafte
Kulkurtat. So konnte er mit vollem Recht sei'ne Bücher mit ihrem treffenden
Text als „Kulturarbei'ten" bezeichnen. Er hak damit nicht nur dem Bolk in
allen scinen Schichten die Augen geöffnek, er hat auch zahlreiche Architekten ge-
sördert und der neuen Baukunst damit die Wege bahnen geholsen. Leider läßt
er vom heutigen Bauen nur gelten, was mehr oder weniger irgendwie mit dem
alten verwandt ist, und versagt seine Kamera allzusehr typisch Modernem —
auch wenn es schon einen bedeutenden Grad von Reife besitzt. Hier scheiden sich
für ihn zwei Welken. Aber auch darin steht Schultze-Naumburg nicht allein,
hat er sogar zahlreiche Weggenosscn; es sind alle jene, denen die heutige Zeit
infolge ihrer Entartungen, Mißstände und Unfcrti'gkeiten verleidek ist, die
gramen Herzens nicht an ihre Erneuerung und Vertiefung zu glaubcn vcrmögen,
die mehr die Sonnenfleckcn als die Sonne sehen. Wir selbst sind gegen diese

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