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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,2.1929

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Heft 9 [Juniheft 1929)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8886#0229

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auf. Heutc bedauert er, als Deutscher, nur noch den armen Grafen Bernstorff, blin-
zelt verständnisinni'g China und Rußland, dem lockeren Osten zu, der allein ihm in
diesem verlogenen und verkalkten Westen sekundierte, und denkt sich im übrigen sein
Teil. Abrüstnng kann auch „von oben" kommen, denkt er sich, und bemerkt getröstet,
daß nicht nur er so lacht, sondern die ganze Welt — auch die Hühner!

Anders steht es um die Sachverständigenkonferenz zu Paris. Gens hatte ein bereits
kriegabgelöstes Europa in eine vernünftigere Zukunst zu sühren; Paris eine immer noch
unausgeheilte Kriegswunde neuerlich zu operieren. Daß bei solch vergangenheitbclaste-
tem Eingriss die Ressentiments von Dersailles eine starke Rolle spielen würden, damit
mußte man also von Ansang an rechnen. Gleichwohl! Gestand man auch zu, daß
diese Angelegenheit konferenzlos nicht zu erledi'gen war; daß ihr breiartig unbestimm-
barer Umfang eine lange, und die Epidermisnähe ihres Themas eine gereizte und
daher unberechenbare Konferenz bedingen würden; daß selbst einer ersolglosen der
fruchtbare Wert neuerlicher allgemeiner Durchackerung des Problems zukäme, eine
erfolgreiche aber ebenso moralisch entgiftend wie dinglich erleichternd wirken müßte:
gleichwohl! Auch wenn sie zuletzt mit einem billig-gerechten Endbeschluß auseinander-
gehen würde, war sie eine Groteske, diese Konserenz; und war es deshalb, weil sie
eine Lebenswichtigkeit ersten RangS von heute im Geist und mit den Praktiken
von g e st e r n behandelte und entschied; eines Gestern aber, das von allen Ausrich-
tigen der heutigen Welt seiner Geistwidrigkeit halber als ein trauriger Anachronismus
verurteilt ist. Um zu diesem Urteil zu kommen, braucht man sich keineswegs an die
äußerlichen Spezi'alitäten zu klammern, die diese Konserenz auszeichnen: Starg

der Weltwirtschaft sitzen da seit Februar beisammen — just und ausgerechnet in
Paris; Schachk und Vögler, von der Reichsregierung in voller Freiheit belassen,
schwitzen monatelang Blut unter dem Druck ihrer Verantwortung; Revelstoke trisst
der Schlag; die Pariser Presse, auf Kommando, setzt prompt den gistigsten Feldzug
gegen die Deutschen in Szene, und die Zeitungen sind ein Merteljahr lang Tag
sür Tag gezwungen, das „Gebackene vom gestrigen Leichenschmaus" aufzuwärmen;
heuke stürzt der Franzose, morgen der Belgier, übermorgen der Engländer aus, mit
dem Entrüstungsschrei: „Biel zu wenig! Zu wenig!"; und so weiter. Noch weniger
braucht man etwa die Notwendigkeiten der „Realpolitik" und die Gewalt und den
Zwang der Wirklichkeit zu verleugnen; nein, der Mensch ist nicht nur Geist, sondern
auch Leib, und muß essen, trinken, schlasen und wohnen! All diese Äußerlichkeiten
also dars man getrost übersehen. Aber genügt nicht schon ein emziger unbesangener
Blick in das Jnnerliche, Jnnere dieser Konferenz, um erkennen zu lassen: hier waltete
nicht „Geist", sondern „Ungeist"; nicht „Sinn", sondern „Unsinn"? Niemals näm-
lich, der Herrschast über Dinge zuliebe, widersprechen Geist und Sinn dem Natur-
gebot der Wahrhastigkeit und der Brüderlichkeit! Den simpelsten Grundsätzen wel-
cher Religion der Welt aber nicht widersprach diese Konserenz? Die heldenhast
durch alle Zeickatastrophen herauf geretteten Sittli'chkeitsideale welcheS redlichen Men-
schen nicht verletzke ihr verblendeter Jntrieb? Verblendet? Jawohl! Berblendet
sind Menschen, die aus den Gedanken kommen, ihrem besiegten „Friedens"-Partner
aus ganze ^8 Jahrc — zwei lebendige Generationen! — hinaus den Schweiß seiner
letzten Anspannung abpressen zu wollen! Berblendet Menschen, die auf den Einfall
geraten, den Rest von „Leistungsfähi'gkeit", der diesem armen Teufel in seinem Z7.
Schuldjahr noch verblieben sein wird, heute schon abschätzen und in verbindliche
Zissern prägen zu können! Berblendet „Sachverständige", die sich zutrauen, diesem
verblendeten Einfall mit ihrer „Fachkenntnis" zuhilse kommen zu können! Und ver-
blendet „Politiker", die, kaum gespürt, daß diese „wirtschaftliche Lösung" versagt,
eilfertig zur „politischen" aufrusen; sehen sie denn m'cht ein, daß sie politisch auch
das Blaue vom Himmel herunter versprechen, dies Bersprechen aber immer nur mit
jenem Brocken Erde honorieren können, den die „Wirtschast" tatsächlich zu „leisten"

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