Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,2.1929

DOI Heft:
Heft 9 [Juniheft 1929)
DOI Artikel:
Umschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8886#0240

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Fragen, die heute tatsächlich gestellt sind,
und ihre Antworten kommen aus einem
Geist, der das Ziehen und Strömen, das
große Wandern und Geschehen echt in
sich gespürt hat. Wilhelm Michel

Der zelebrierende Chor

ie „Bühne der Lebenden" in Mün-
chen, begründet von dem Literar-
historiker Berthold Litzmann, zur Pflege
junger dramatischer Kunst, nunmehr von
seiner Gattin fortgeführt, hatte zum
ersten Bortragsabend dieser „Spielzeit"
eingeladen. Albert Talhoff sprach über
den „zelebrierenden Chor". Masken,Bil-
der und ein Puppentheater verdeutlichten
seine Rede, auS der der Zuhörer den Ein-
öruck eines tiefen Wissens von den gei-
stigen Dingen und eines ernsten Wol-
lens in der Kunst empfing. Das Wort
als Leib Gottes im Sinne des Johan-
nesevangeliums gefaßt, soll sichtbarlich
von dem Chore menfchlicher Gemein-
schaft dargeboten werden; Licht und Be-
wegung sollen aus der „Magie" des
Wortes erstehen. Die neue Bühne will
wieder in dem gottesdienstlichen Ursinn
aller theatralischen Darbietung agieren,
und es war bemerkenswert, zu hören,
daß der Kreis um Mary Wigman sich
dem tänzerischen Sprechchor zugewandt
hat.

Jm zweiten Teile seines Programmes
brachte Talhoff eine eigene chorische „Vi-
sion" gcmeinsam mit einer weiblichen
Sprecherin zum Vortrag. Der Klang
der Vokal- und Konsonanzmusik war so
eindringlich, daß das beabsichtigte Ge-
geneinander und Miteinander von
Chören und Einzelstimmen, auch ihr Be-
wegungs- und Lichtbild vorstellbar wurde.
Zugleich aber wurde deutlich, daß die
Zutat des Wortes hier keinen entschei-
denden Schritt bedeutet über die in der
Tat sehr verwandten Pantomimen der
Wigmanschule hinaus. Die antiken
Chöre sangen von einem ganz bestimm-
ten Gotte und seiner Mythe, die eine
Fabel mit vielen einprägsamen und be-
deutsamen kleinen Einzelzügen war. Die
mittelalterlichen und barocken Mysterien-
spiele, wie sie Hugo von HofmannSthal
im „Jedermann" und im „Großen Welt-
theater" erneuert hat, kannten eine Welt-
ordnung, die sich von der Erfcheinungs-
form des höchsten Wesens bis zu den
Hörnern des Satans erstreckte. Was

20-s

aber zelebriert der zelebrierende Chor?
Welchem Gotte dient er? Wcnn er
immer wieder im O-Laut stürmisch fragt:
„Wo bist Du, Gott? Wo?" so erhält
er und der Zuschauer niemals eine Änt-
wort. Das Wort, dem diese Chöre die-
nen, ist bloßer Klang. Eö ist wohl nicht
nur romantisch und verkappt intellek-
tuell aus Wissein und Sehnsucht ge-
boren; vielleicht ist es magisch; vielleicht
dämonisch; aber der Logos, das Wort
des Johannes-Evangeliums, das als Ein-
leitung vor einer sehr geschehensreichen
Erzählung vom irdischen Schicksale des
SohneS Gottes steht, ist es nicht.

Der zelebrierende Chor gleicht so den
mancherlei Erscheinungen der Zeit, deren
Gesicht ein eigentümlich verschleiertes, bei
näherem Zusehen zerfließendes ist. Sie
sind wie das unausgebrütete und gleich-
wohl aus der Schale gegossene Ei odcr
wie die ins Licht gestellte Jdee, die noch
nicht das Werk. Daß es am Gegen-
stande der Andacht, am Gehalte der
Zeremonie mangelt, ist nicht Schuld der
sehnsüchtig „Bewegten", sondern Schick-
sal der Stunde, die nicht die Stunde der
Ernte ist. Wie es in einem tieferen
Sinne kein Zufall war, daß am gleichen
Abend, da sich Talhoff in einer Gaststube
mit Ernst und Leidenschaft einen „zele-
brierenden" Puppenchor zu erklären
mühte, auf der einstmals besten Bühne
der Stadt ein fixer Manager aus eige-
nem und fremdem Ensemble ein kleines
franrösisches Boulevardstückchen mirte.

Wolfgang Petzet

Aphorismen, aus der Taucherglocke

er Meeresgrund der Ewigkeit heißt
Leben. Alles, waö lebt, ist unter-ge-
gangen.

Kunst nennen wir, was die Taucher der
Seele inS Licht heben.

Die Künstler tragen ihr Talent wie die
Hunde ihre Peitsche.

Der Dichter hat seinen eigenen Frühling.
Es kann auch eine grüne Tischdecke sein.

Für Kinder, Dichter und andere Zauberer
puppt das Leben, gottet das Spiel.

Auf den Berg über der Welt entführt
nur Gott oder verführt nur der Teufel.

Am Morgen ist alleö der Markt, am
Mittag ist alleö der Tempel, am Abend
ist auch der Markt Tempel.
 
Annotationen