Möglichkeiten hinauS zur Einmalig -
keit des jetzt nnd hier gebotenen Han -
delns zu gelangen. „Jetzt" und „Hier"
— das sind die beiden großen Zauber-
und Schlüsseltvorte der Geschichte; auch
der Kunstgeschichte. Kunstschasfen ist je-
desmal Tat, nicht Meinung oder Betrach-
tung; Tat auS den Ersordernissen des
Augcnblicks, Tat, die öen bloß Betrach-
tenden sast immer verletzt, die der Traöi-
tion sast immer wehetut und selbst dic
Logik kränkt — und die gerade dadurch
beweist, daß sic eine Notwendigkeit und
die richtige Entsprechung zur gegenwär-
tigen Weltstunde ist. Es gibt nichts De-
müugenderes für unser stolzes Dersian-
desurteil als die Tatsache, daß sast jede
neue Kunstwahrheit in ihren Ansängen
einem Unsinn täuschcnd ähnlich sah. Es
war immer leicht, sie mit guten Gründen
zu widerlegen; aber immer ist daS Neue,
wenn es in der Zeit wahrhast verankert
war, mit diesen Gründen sertig gewor-
den.
Und ist das nicht ein Glück? Gibt es et-
was Herrlicheres sür den wirklich leben-
digen Menschen, als wenn in den großen
geschichtlichen Wendungen sein DorauS-
sehen oder gar seine DerstandeSansprüche
nicht ersüllt werden? Wenn eine an-
dere Krast, das Leben selbst, ihm ent-
gegentritt und aus einer fremden, unge-
heuren Phantasie das gänzlich Unerwar-
tete zutagc bringt?
Das Widersinnige ist der eigentlich wert-
volle, der kostbarste Bestandteil der Ge-
schichte. Denn in diesem Bestandteil wirft
sich unsrer Dernunft jenes Fremde ent-
gegen, das die Wclt erst wirklich zur Welt
macht. Gerade das Kunstgeschehen zeigt
unö diesen fremden Bestandteil sehr ofr.
Und keine kleine Eitelkeit sollte uns hin-
dern, daS geheime Entzücken einzugestehen,
daS wir empsinden, wenn eS nicht nach
unserm Kopf gegangen ist, wenn das Le-
ben aus eigener Macht eine neue Wen-
dung genommen hat, die uns selber neuen
Boden, ncue Krast und Geistesfreude
schenkt.
Lebenssrage der Kunst ist es, aus den
echten Notwendigkeiten des Augenblicks
die dunkle, rettende Tat zu tun. Aber
sür den Einzelmenschen ist es eine Lebens-
frage, sich stets so viel Schwung nnd
Vertrauen zu bewahren, daß er den Wen-
dungen des Kunstgeschehens mit Frische
folgen kann. W. M.
Heinrich Sohnrey zum 70. Geburts-
tag
<?^n Sohnrey, der am 19. Juni 18^9
^ygeboren, gilt es wiederum eines Weg-
genossen von Avenarius, eines seiner
frühesten und besten Mitarbeiter am
Kunstwart zu gedenken; eines Mannes,
der weit über seine hannoveranische Hei-
mat hinauS, bis ties in den deutschen Sü-
den gewirkt — durch seine Person und
seine Werke. — Schon als junger Leh-
rer widmete er sich der Erforschung des
ländlichen Volkstums und schrieb aus des-
sen Vergangenheit und seinem Nachwir-
ken in die Gegenwark eine größere An-
zahl wirksamer Dorfgeschichten; ihr Dop-
pelband hat eine hohe Auslage erreicht
und ist heute noch literarisch wie kultur-
geschichtlich beachtenswert. Noch manch-
mal hat den Poeten in ihm diefer Stoss
gereizt. Durch mehrjährige Studien an
der Universität Göttingen hat der ohne-
hin schon gründüche Forscher seine Be-
obachtungen vielsach erweitert und ver-
tiest — eine Frucht dessen ist u. a. die
prächtige Dorsgeschichle „Der Bruder-
hos". Die stark soziale Ader und ein
mächtiger Trieb, inö Weite zu wirken,
sührten Sohnrey zur Journalistik: er
wurde Redakteur und später HerauSge-
ber verschiedener Zeitschriften — aus wel-
chem Gebiete er bis heute tätig ist. Ob-
wohl er seit 189/s in Groß-Derlin lebt,
sind ihm alle Fäden und Beziehungen
zum Lande lebendig geblieben; ja er hat
nun erst recht sür seine eigentlichste Aus-
gabe neue Antriebe gewonnen, das Land-
volk von der Stadt abzuhalten und in
sich selbst reiser und reicher zu machen,
es auf alle erdenkliche Weise zu fördern.
So wurde er zum Sozialpolitirer und
entwickelte in der Zeitschrift „Land" seine
weitreichendcn Plänc. Die Grundaussas-
sung seines WirkenS hat er jüngst selbst
formuliert: „Mein Ziel war vor allem
die soziale Hebung der Arbeiterbevölke-
rung, die Belebung und Stärkung des
Volkstums, wie überhaupt die Bereiche-
rung und Verschönerung des gesellschast-
lichen Lebens auf dem Lande. Meine
Mitkel suchte ich aber nicht in der (pa-
triarchalischen) Wohltätigkeit, wo die
eine Seite gibt oder stiftet und die andere
Seite nimmt und dankt, sondern in dem
freiwilligen Zusammenarbeiten aller
Stände zu gemeinnützigem Tun, um da-
durch auch dem geringsten Arbeiter die
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keit des jetzt nnd hier gebotenen Han -
delns zu gelangen. „Jetzt" und „Hier"
— das sind die beiden großen Zauber-
und Schlüsseltvorte der Geschichte; auch
der Kunstgeschichte. Kunstschasfen ist je-
desmal Tat, nicht Meinung oder Betrach-
tung; Tat auS den Ersordernissen des
Augcnblicks, Tat, die öen bloß Betrach-
tenden sast immer verletzt, die der Traöi-
tion sast immer wehetut und selbst dic
Logik kränkt — und die gerade dadurch
beweist, daß sic eine Notwendigkeit und
die richtige Entsprechung zur gegenwär-
tigen Weltstunde ist. Es gibt nichts De-
müugenderes für unser stolzes Dersian-
desurteil als die Tatsache, daß sast jede
neue Kunstwahrheit in ihren Ansängen
einem Unsinn täuschcnd ähnlich sah. Es
war immer leicht, sie mit guten Gründen
zu widerlegen; aber immer ist daS Neue,
wenn es in der Zeit wahrhast verankert
war, mit diesen Gründen sertig gewor-
den.
Und ist das nicht ein Glück? Gibt es et-
was Herrlicheres sür den wirklich leben-
digen Menschen, als wenn in den großen
geschichtlichen Wendungen sein DorauS-
sehen oder gar seine DerstandeSansprüche
nicht ersüllt werden? Wenn eine an-
dere Krast, das Leben selbst, ihm ent-
gegentritt und aus einer fremden, unge-
heuren Phantasie das gänzlich Unerwar-
tete zutagc bringt?
Das Widersinnige ist der eigentlich wert-
volle, der kostbarste Bestandteil der Ge-
schichte. Denn in diesem Bestandteil wirft
sich unsrer Dernunft jenes Fremde ent-
gegen, das die Wclt erst wirklich zur Welt
macht. Gerade das Kunstgeschehen zeigt
unö diesen fremden Bestandteil sehr ofr.
Und keine kleine Eitelkeit sollte uns hin-
dern, daS geheime Entzücken einzugestehen,
daS wir empsinden, wenn eS nicht nach
unserm Kopf gegangen ist, wenn das Le-
ben aus eigener Macht eine neue Wen-
dung genommen hat, die uns selber neuen
Boden, ncue Krast und Geistesfreude
schenkt.
Lebenssrage der Kunst ist es, aus den
echten Notwendigkeiten des Augenblicks
die dunkle, rettende Tat zu tun. Aber
sür den Einzelmenschen ist es eine Lebens-
frage, sich stets so viel Schwung nnd
Vertrauen zu bewahren, daß er den Wen-
dungen des Kunstgeschehens mit Frische
folgen kann. W. M.
Heinrich Sohnrey zum 70. Geburts-
tag
<?^n Sohnrey, der am 19. Juni 18^9
^ygeboren, gilt es wiederum eines Weg-
genossen von Avenarius, eines seiner
frühesten und besten Mitarbeiter am
Kunstwart zu gedenken; eines Mannes,
der weit über seine hannoveranische Hei-
mat hinauS, bis ties in den deutschen Sü-
den gewirkt — durch seine Person und
seine Werke. — Schon als junger Leh-
rer widmete er sich der Erforschung des
ländlichen Volkstums und schrieb aus des-
sen Vergangenheit und seinem Nachwir-
ken in die Gegenwark eine größere An-
zahl wirksamer Dorfgeschichten; ihr Dop-
pelband hat eine hohe Auslage erreicht
und ist heute noch literarisch wie kultur-
geschichtlich beachtenswert. Noch manch-
mal hat den Poeten in ihm diefer Stoss
gereizt. Durch mehrjährige Studien an
der Universität Göttingen hat der ohne-
hin schon gründüche Forscher seine Be-
obachtungen vielsach erweitert und ver-
tiest — eine Frucht dessen ist u. a. die
prächtige Dorsgeschichle „Der Bruder-
hos". Die stark soziale Ader und ein
mächtiger Trieb, inö Weite zu wirken,
sührten Sohnrey zur Journalistik: er
wurde Redakteur und später HerauSge-
ber verschiedener Zeitschriften — aus wel-
chem Gebiete er bis heute tätig ist. Ob-
wohl er seit 189/s in Groß-Derlin lebt,
sind ihm alle Fäden und Beziehungen
zum Lande lebendig geblieben; ja er hat
nun erst recht sür seine eigentlichste Aus-
gabe neue Antriebe gewonnen, das Land-
volk von der Stadt abzuhalten und in
sich selbst reiser und reicher zu machen,
es auf alle erdenkliche Weise zu fördern.
So wurde er zum Sozialpolitirer und
entwickelte in der Zeitschrift „Land" seine
weitreichendcn Plänc. Die Grundaussas-
sung seines WirkenS hat er jüngst selbst
formuliert: „Mein Ziel war vor allem
die soziale Hebung der Arbeiterbevölke-
rung, die Belebung und Stärkung des
Volkstums, wie überhaupt die Bereiche-
rung und Verschönerung des gesellschast-
lichen Lebens auf dem Lande. Meine
Mitkel suchte ich aber nicht in der (pa-
triarchalischen) Wohltätigkeit, wo die
eine Seite gibt oder stiftet und die andere
Seite nimmt und dankt, sondern in dem
freiwilligen Zusammenarbeiten aller
Stände zu gemeinnützigem Tun, um da-
durch auch dem geringsten Arbeiter die
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