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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 8 (Maiheft 1923)
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Sokratiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0091

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sagt er; du bist der Erzieher vieler, ich dieses einzrgen Iünglings hier; du
bist vermöglich und teilst freigebig aus, ich nehme herzhaft von dir, ohne
unterwürfig zu sein, ünedel zu handeln oder mit meinem Schicksal zu hadern.
Du verstehst deinen reichen Besitz zu gebrauchen, ich meinen geringen. Denn,
sagt er, es steht ja nicht so, daß nur großer Reichtum uns ernähren und
man nur diesen mit Nützen gebrauchen, dagegen einen kleinen und einfachen
Besitz nicht auch besonnen und frei vom Wahne benützen könnte. Deshalb,
sagt Bion, wenn die Dinge auch reden und sich rechtfertigen könnten, wie
wir, würden sie dann nicht, sagt er, wie ein in einen Tempel geflüchteter
Sklave zu seiner Rechtfertigung mit seinem Herrn sprechen: „Warum streitest
du mit mir? tzabe ich dir vielleicht etwas gestohlen? Tue ich nicht alles,
was du mir Hefiehlst? Bringe ich dir nicht den ordnungsmäßigen Ertrag
ein?" Und die Armut ckönnte zu dem, der ihr Vorwürfe macht, sagen:
„Warum streitest du mit mir? Entziehe ich dir vielleicht irgend etwas Gutes?
Etwa die Besonnenheit oder die Rechtlichkeit oder die Tapferkeit? Oder leidest
du vielleicht Mangel am Notwendigen? Sind denn nicht alle Wege voll
von Kräutern und alle Ouellen voll Wasser? Sind die Lagerstätten, die ich
dir gewähre, nicht so!weit und groß als die Erde und biete ich dir nicht
Blätter als Kissen? Kann man etwa in meiner Gesellschaft nicht fröhlich
sein? Siehst du nicht, wie alte Weiblein vergnügt vor sich hinsummen, wenn
sie ihr Gerstenbrot verzehren? Biete ich dir im tzunger nicht eine wohlfeile
und einfache Würze des Mahles? Denn schmeckt das Essen nicht dem
tzungernden am besten und braucht nicht dieser am wenigsten eine Würze?
Schmeckt ein Trunk nicht am besten dem Durstigen und wartet dieser nicht
am wenigsten auf ein Getränke, das nicht zur Stelle ist? Oder hungert man
nach Kuchen und dürstet nach Chierwein? Trachten die Menschen nach
diesen Dingen nicht einfach aus Äppigkeit? Oder biete ich dir nicht kosten--
lose Anterkunft im Winter in den Bädern und im Sommer in den Tempeln?
Wo kannst du denn eine Sommerwohnung aufweisen, sagt Diogenes, wie
ich sie hier am Parthenon habe, der so luftig und schön ist? Wenn so die
Armut spräche, was würdest du ihr erwidern? Jch würde, glaub ich, ver-
stummen. Aber wir suchen eher in allem andern die Schuld als in unserm
eigenen Starrsinn und der Verkehrtheit unsres tzerzens: im Alter, in der
Armut, im Rebenmenschen, im Tag, in der Stunde, in der Örtlichkeit. Des-
halb sagt Diogenes, er habe die Stimme des Lasters vernommen, das sich
selbst den Vorwurf machte:

Memand anders ist daran schuld, ich bin es nur selber. Aber verblendet,
wie sie sind, schreiben viele die Schuld nrcht sich selbst, sondern den Verhält-
nissen zu. Bion jedoch sagt: gerade wie bei den Tieren entsprechend dem
Griff der Biß erfolgt und man gebissen wird, wenn man eine Schlange in
der Mitte faßt, dagegen, wenn am tzalse, unverletzt bleibt: geradeso, sagt er,
entspringt auch aus den Verhältnissen, je nachdem man sie angreift, Leid.
Greifst du sie so an wie Sokrates, so wirst du kein Leid empfinden; wenn
aber anders, so wirst du Kummer haben: nicht infolge der Verhältnisse, son«
dern infolge deines eigenen Charakters und deiner falschen Anschauung.
Deshalb soll man nicht versuchen, die Verhältnisse zu ändern, sondern sich
selbst auf jede Lage gefaßt machen, wie es die Seefahrer tun: diese suchen
nicht die Winde und das Meer zu verändern, sondern sie machen sich gefaßt
und geschickt, sich nach jenen zu richten. Ist heiteres Wetter und ruhige
See, so fahren sie mit den Rudern; geht der Wind in der Richtung deA
Schiffes, so ziehen sie die Segel auf; weht er ihnen entgegen, so ziehen ste
 
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