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Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 3.1913-1914

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Poritzky, Jakob E.: Die künstlerischen Probleme der menschlichen Gestalt
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https://doi.org/10.11588/diglit.22030#0766

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DIE KÜNSTLERISCHEN PROBLEME

WETTBEWERB ZUM BERLINER KOLONIALKRIEGERDENKMAL ENTW.: ADOLF BRÜTT

zurücklegt. Er empfängt verschiedene Eindrücke von machen kann. Wir sehen ja nicht in Linien, sondern
der menschlichen Gestalt. Die Bewegung eines in Flächen und Massen. Von den Proportionen aus-
Kopfes, die Haltung der Schultern, das Ausstrecken gehend, muß der Künstler erst wieder den Eindruck
der Hand, der schöne Schnitt eines Mundes haben der Einzelformen zusammensetzen. Wenn Dürer
eigenartigen Charakter genug, um im Gedächtnis des auch Köpfe konstruiert hat, so sind doch diese Kon-
Künstlers zu haften. Sie werden in ihm lebendig struktionen nicht abstrakt gefunden, sondern aus
bleiben, sich vielleicht zu einem Ganzen formen vorhergegangenen Eindrücken, die aufgenommen und
und bei dem Schaffen seiner Phantasie tätig mit- zerlegt wurden, hervorgegangen,
wirken. Was in ihm lebendig bleibt, sind aber Die Beziehung und der Einfluß der Farbe auf
nichts als Elemente der Form: Linien, Flächen den Eindruck der Form bewirkt gleichfalls verschie-
u n d Massen. Man müßte nun den Charakter der dene Modifikationen. So erscheint eine plastische
einzelnen Linien verfolgen; ob sie gerade oder ge- Form verändert, je nach einer gleichen darüber aus-
bogen sind, ob Teile eines Kreises oder einer Ellipse, gebreiteten Farbe oder nach Farbenkontrasten. Man
vertikal oder horizontal laufend, divergierend oder denke nur an die Farbe des Haares im Verhältnis
konvergierend, symmetrisch oder asymmetrisch, zur Gesichtsfarbe, an die Haargrenzen an der Stirn
harmonisch oder kontrastisch. Dann wäre die Art der und an den Schläfen, an die Augenbrauen in Bezug
Flächen festzustellen: verlaufen sie konkav oder auf die Form des Auges, an die Röte der Lippen
konvex, jäh aufbäumend oder sanft anschwellend usw. Bei ganz gleicher Statur und Form im Ein-
usw. Eine zusammenhängende gleichartige Fläche zelnen ist der Eindruck eines blonden und brünetten
fassen wir als Masse auf (z. B. der Leib, der Typus völlig verschieden voneinander. Farben be-
Schenkel), und diese Masse hat wieder verschiedene sitzen also bestimmte Gefühls- und Stimmungswerte.
Bewegungsmöglichkeiten. Bei verschie- Da sie aber Formen anhaften, die ja wiederum an
denen Bewegungen erhält aber jeder einzelne Kör- sich einen bestimmten Eindruck erwecken, so wer-
perteil einen ganz neuen ästhetischen Wert. Sogar den sie nun verändert, gesteigert oder abgeschwächt,
bei derselben Bewegung (z. B. der hochgestellte Insofern werden wir finden, daß eine Linie bald
Schenkel der „Nacht" Michelangelos) genügt es, daß schwer oder anmutig, bald energisch oder kraftlos
die Beleuchtung einmal von anderer Seite komme, wirkt. Und bei diesen psychologischen Gründen
um die ganzen Konturen verändert erscheinen zu spielt unverkennbar eine gewisse Symbolik der
lassen. menschlichen Gestalt mit. Irgend eine äußere Er-
Wollte man das Formenproblem des mensch- scheinung des Körpers wird uns zum Zeichen und
liehen Körpers durch das Feststellen der Propor- Symbol für seinen geistigen Inhalt. Denn daß der
t i o n e n ergründen, so würde man schon daran menschliche Körper, abgesehen von der Physiog-
scheitern, daß man sich von den Proportionen und nomie, bestimmte charakteristische Eigenheiten auf-
ihrem Verhältnis untereinander keine Vorstellung weist, die das Temperament und die Psyche offen-

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