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Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 3.1913-1914

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Gehri, Hermann: Zeichnerische Erziehung und Pinselkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.22030#0778

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ZEICHNERISCHE ERZIEHUNG UND P1NSELKÜNST

Papiere in eine einzige Zeichnung oft alles
Tasten und Probieren, weil die beiden Tanten
dem Ding immer wieder auf die Beine halfen,
und weil dem festen Papier immer noch mehr
Blei-, Kreide- oder Kohlestriche auf den ge-
duldigen Rücken geladen werden konnten, so
daß eine solche verquälte Zeichnung aussah
wie eine Tänzerfigur mit Krücken und Stelzen.

Inhalt und Form der japanischen Malerei
wollen wir nicht nachahmen ; sie sind Produkte
einer andern Kultur. Das Prima-Arbeiten aber
kann unsere zeichnerische Erziehung nur be-
fruchten. Man müßte es dahin bringen, daß
jeder Strich etwas sagt und ausdrückt, und daß
jene vielen unnütz herumlungernden Striche,
die bei einer Schattierung oder Schraffierung
angestellt waren, ohne etwas zu leisten, ent-
lassen würden. Lieber wenig Arbeiter, aber
jedem seine bestimmteste Funktion.

Man greift deshalb gern zum Tuschpinsel,
weil das Hinsetzen einer Zeichnung, ohne
etwas ändern zu können, etwas Verführerisches
und Dramatisches hat. Irgendeine wichtige
Umrißlinie zieht man doch manchmal mit
Bangen hin, wie einer, der einen Heerhaufen
auf schwierigem Weg zu führen hat. Voraus-
setzung dabei ist, daß man das Primazeichnen
nicht dadurch wieder zunichte macht, daß man
die Linien mit Blei oder Kohle vorzeichnet und
dann auf festgelegten Bahnen mit dem Pinsel
spazieren fährt. Der Hauptreiz des Prima-
zeichnens liegt eben in dem Hinströmen der
Form Stück für Stück, darin, daß man die
Linien gleichsam in Neuland führt. Man ist
dadurch genötigt, bei jeder einzelnen Stelle
mit der gleichen Frische zu arbeiten und stets
das Ganze wie einen unsichtbaren Geist auf
dem Papier zu fühlen. Die Naturstudie wird
dadurch zum dramatischen Erlebnis, wenn man
z. B. Locke an Locke reiht, wie bei dem Kopf

mit den fliegenden Haaren, und in jedem Pinsel-
strich Struktur und Schimmer der Haare unter-
bringen muß, oder wenn man, wie beim
gotischen Kopf, das Profil hinlaufen läßt, wie
eine in den Ufersand gezogene Linie, in die
das Wasser gierig nachrennt.

in seinem eigentlichen Element ist der Tusch-
pinsel bei der Wiedergabe von Eindrücken aus
der Erinnerung. Man hat draußen im Freien
oder bei irgendeiner Vorführung etwas gesehen,
das man gern festhalten möchte. Gleich an
Ort und Stelle läßt es sich aus praktischen
Gründen nicht festhalten oder geht zu schnell
vorüber. Da setzt man sich dann eben am
andern Tag im stillen Atelier hin, Wunsch und
Erinnerung im Innern, das leere Blatt vor sich,
und fängt an, sachte die Figürchen entstehen
zu lassen und nach seinem Belieben zu lenken,
zu steigern und zu vereinfachen, wie z. B. die
drei Tanzenden, die in Wirklichkeit unbedeu-
tender und angezogener aussahen. In der
Erinnerung aber läßt man die naturalistischen
Nebenmomente weg, weil das schönste am Vor-
gang die gleitenden, schmiegenden Bewegungen
waren. Ebenso ist die Seiltänzergruppe eine
freie, launige Zusammenfassung verschiedener
Einzelerinnerungen.

Dieses Festhalten und leichte Wiedergeben
von Erinnerungseindrücken bietet im künst-
lerischen Schaffen den unmittelbarsten Genuß.
Die wehmütige Erinnerungsfreude drängt zur
Gestaltung; man will den Eindruck vor dem
Vergessen retten und schafft mit heimlicher
Lust Uebersetzungen der Dinge in seine eigene
persönliche Wtlt. Dabei ist man auf sich
selbst angewiesen, denn man kann an Formen
und Vorstellungen nur wiedergeben, was sich
einmal im Gedächtnis festgeklammert hat. Man
gleicht einem eingesperrten Prüfling, nur daß
man nicht mit Angst, sondern mit Lust schafft.

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