Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Picart, Bernard
Neueröffneter Musen-Tempel: welcher das allermerkwürdigste, aus den Fabeln der Alten in 60 auserlesenen und schönen Kupfern von Bernard Picart und andern kunstreichen Männern vorstellet ; mit deutlichen Erklärungen und Anmerkungen — Amsterdam u. Leipzig, 1754

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8922#0193

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
i3o PHINEUS.
hat man auf Erden scheuslichere Unthiere gefehen , ja der Hollen-Schlund selbft
hat niemaliIs schädlichere Beftien ausgehecket, als diefe. Eigentlich warens Vogel,
iedoch mit menschlichen Leibern und Jungfer-Gefichtern: hatten aber krumme
Schnabel und Klauen, in ihren Eingeweiden konten sie nichts behalten , und die
blasse Farbe ihrer Gelichter zeigte ihren uncrfattbchen Hunger an. Sie flatterten
unaufhörlich um die Tasel des alten Phineus herum, nahmen die Speisen, so man
ihm vorsezte, zum Thcil hinweg, und brachten in das übrige einen solchen uner-
träglichen Geftank , dass er bey dem grosten Uberflusse Hunger leiden muste.
Dieser ungliickseelige Furft mufte sich also mit etlichen Brocken Behelsen, welche
ihm diese gefräsigen Ungeheur übrig liesen , und trottete sich mit der Hofnung,
dass ihn die Sohne des Boreas noch einft erlofen wurden. Als nun die Helden,
welche mit einander aus die Eroberung des goldenen Vliefes ausgereist waren, in
Bithynien ans Land traten, so erhob er fich von seinem Bette, fteiste feine zitternde
Hand aus einen Stab und gieng vor feinen Palaft hinaus, um sie willkommen zu
heilten. Er sorschete sogleich nach dem Zethes und Calais4, und nachdem er
ihre Flügel betaftet hatte, um defto gewiner zu seyn, dass sie es waren mit denen
er spräche, so befchwor er fie bey den unfterblichen Gottern , und bey der Ehre
ihr Verwandter' zu feyn , fie mochten doch die graufamen Harpyen vertreiben,
und ihn von feiner Marter erlofen. Diefe zwey Kriegs-Helden liefen sich durch
seine Thranen bewegen und fchickten sich zum Kampfe mit den abseheulichen Vö-
geln. Sie giengen mit dem Degen in der Fauft auf fie los, und wolten fie durch-
aus tod haben. Alleinc die Harpyen waren fefte und konten nicht verwundet
werden , ja es wurden nicht einmahl ihre Flügel nur im geringften beschädiget.
Doch nahmen fie die Flucht und wurden von ihnen biss in die Infein Plorae ver-
folget, welche von felbiger Zeit an Strophades 6 find genennet wurden. Hiefelbst
erfchien die Iris auf ihrem Regenbogen diefen jungen Helden, und befohl ihnen im
Nahmen der Gottin Juno 7, fie folten von folcher Verfolgung ablaiTen, verfprach
ihnen aber anbey, dass Phineus nicht weiter von den Harpyen folte beunru-
higet werden.
ERKLÄRUNG DER FABEL.
Man hat zwey Haupt-Meynungen von dieser Fabel. Die erste ist, wenn einige
dasür halten , dafs die Harpyen des Phineus leine Tochter gewefen, welche durch
ihr liederliches Leben ihrem alten blinden Vater grofe Unkosten verurfachet. Da
nun die Argonauten nach Bythinien gekommen, lo brachten Calais und Zethes die
Mutter-Brüder diefer Prinzeffinnen , selbige dahin , dafs fie ein ordentlicheres Le-
ben führen muften, und wendeten dadurch den gänzlichen Fall diefes Haufes ab.
Andere aber meynen , es wären durch die Harpyen Heuschrecken 8 zu verlie-
hen,
ANMERKUNGEN.
erst aus der Holle heraus kommen, als sie dieselbe dem Phineus zur lin war eine Schweiler dieser beyden Helden , wie fchon oben in
Plage luschickten; und gaben ihnen Erlaubniss auf Erden zu bleiben, der II. Anmerk. gedacht worden.
und die Ubelthäter zu zuchtigen ; wodurch die Poeten das Bei- 6. Strophades.] Nunmehr heisen fie Strivoli. Es find zwey
fen eines bosen GewiiTens haben andeuten wollen. Übrigens kleine Infein im lonischen Meere , von der Insel Zante gegen
war Celeno die Vornehmfte oder Regentin unter den Harpyen, Mittag und gegen die Westlichen Kusten von Morea zugelegen,
nach dem Zeugniffe des Virgilii: (a) Sie wurden Strophades genennet von dem Griechifchen Worte
«•sty«, umkehren , indem die Sohne des Boreas , als fie die Har-
Qua Phtebopater omnipotens, mihi Phcebus Apollo pyen biß dahin verfolget hatten, aus Gehorsam gegen den Befehl
Pr*dixit, vobis Furiarum eLo maxima pando. der °°tter v?fds z"™.cl<e ^hreten und sie dafelbft ruhig woh-
nen liesen. Und auf diefen Infein hat fie iEneas hernach gefun-

4.. Zethes et Calais.1 Die Poeten legen ihnen Fluge! bey, ^en _„ r . „ , , „ ,
Lü Z des Boreas Sohne seyn sollen. ^Besiehe das j?nde des . 7-Der Gottin Juno.] Ehe Harpyen wurden d,e Hunde
L Buches des Ovidius von den Verwandlungen. <#r /«w genennet.
5- Ihr Vebwandter.] Denn Cleopatra feine erfte Geniah- 8. Heuschrecken &c] Diese Erklärung ist von Mr. LeClm{c)

{*) «£mii. 5. vs.»fi. »J». (*) f7rZ. Ätcid. J. W TilMtth. Vmvtrs, Tom. i.
 
Annotationen