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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 2
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Beringer, Joseph August: Betrachtungen zu W. Steinhausens Griffelkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.26233#0080

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W. Steinhausen. Sohn des Künstlers (Radierung).

ETRACHTUNGEN ZU W. STEIN-
HAUSENS GRIFFELKUNST.

Von Dr. J. A. BERINGER.

In der deutschen Kunst des 19.Jahrhunderts
zeigt sich eine einheitliche Tendenz. Je mehr
die intellektuellen Kräfte durch politische, wirt-
schaftliche und soziale Bewegungen, Kämpfe
und Ziele den Verstand in Anspruch nehmen,
je mehr den fühllosen Zahlen eine fast grausige
Macht eingeräumt wird, je mehr die Sinne
nüchterner ins Leben sehen, um so stärker
wird die Reaktion der seelischen Kräfte, um so
leidenschaftlicher ringen sie um ihre Daseins-
berechtigung, um so wärmer umfassen sie die
Dinge der Welt, denen sie das Leben geben
und erhalten wollen.

Die Kunst des 19. Jahrhunderts ist Emp-
findungsausdruck. Beethoven mit seiner in alle
Tiefen tauchenden Musik kündet die neue Zeit
an. R. Wagners Tondichtungen schreiten bis
zu den äußersten Grenzen dieser Gefühlskunst.
Leidenschaftlichen Empfindungsausdruck in zu-
nehmendem Maße zeigt auch die strengere
Formalkunst, die Bildnerei. Bei Schwind ver-
nehmen wir diese Töne zuerst deutlich. Bei
Böcklin treten sie mit der Wucht eines unhemm-
baren Naturereignisses in die Erscheinung. Es
muß dabei im Auge behalten werden, daß die un-
mittelbarste Künderin und Deuterin des Gefühls-
lebens, die Musik, zeitlich vorangeht, und daß
in der bildenden Kunst ein starkes musikalisches
Element lebt.

Steinhausen hat, in dieser die Gefühls-
werte betonenden Entwicklung, seine besondere
Note. Die Melodie seiner Kunst ist von Anfang

an klar und bestimmt, so leise sie auch tönen
mag. Man kann in der christlichen Kunst bis zu
Cranach und Dürer zurückgehen, nirgends wird
sich der deutsche und evangelische Charakter
so rein, so ergreifend innig, so friedvoll mit
sich und der Welt, so groß und bedeutend
zeigen, wie bei Steinhausen. Dürer und Cranach
waren in ihren Griffelwerken von der Kampf-
luft der reformatorischen Bewegung umwittert.
Sie sind, soweit sie christliche Künstler sind,
Protestanten. Steinhausen ist evangelisch.
Evangelium heißt frohe Botschaft. Das Evan-
gelium Christi aber hub an und schloß mit
den Worten: „Friede sei mit euch“.

In dieser trost- und friedenbringenden
Mission liegt, wie mir scheint, der Angelpunkt
von Steinhausens Griffelkunst. „Sorget nicht“
heißt ja eines jener innigen und sinnigen
Blätter, auf dem der Geist der Schwere, der
Erde, als ein Dämon den unter Kummer zu-
sammengebrochenen Mann umkriecht, während
Frau und Kind hoffnungsfroh unter dem
blühenden Baum die Lerche schauen, die dem
Himmel zufliegend im blauen Äther ihr Lied
singt.

Für Steinhausen ist also das Stoffliche und
Inhaltliche nicht gleichgültig. Es ist vielmehr
von höherer Bedeutung. Nicht das Technische
reizt ihn zunächst, um etwa seine Künste und
Künsteleien daran zu zeigen. Er bedient sich
des Technischen nur als Ausdrucksmittel seiner
Empfindungswelt, als Sprache seiner Seele und
seines Geistes. Steinhausen will also hinter der
sichtbar gemachten Welt eine unsichtbare her-
vorleuchten lassen. Indem er die Welt seines
Schauens darstellt, wird sie zur Projektion

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