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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 3
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Hesse, Hermann: Eine Fussreise im Herbst, [2]: Schluß
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[Notizen]
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https://doi.org/10.11588/diglit.26233#0164

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EINE FUSSREISE IM HERBST.

ist er an dir vorbei und du wendest dich und
schaust ihm nach, so siehst du ihn alsbald
undeutlich werden und spurlos ins Graue hin-
ein verschwinden. Nicht anders ist es mit
den Häusern, Gartenzäunen, Bäumen und Wein-
berghecken. Du glaubtest die ganze Umgebung
auswendig zu kennen und bist nun eigentümlich
erstaunt, wie weit jene Mauer von der Straße
entfernt steht, wie hoch dieser Baum und wie
niedrig jenes Häuschen ist. Hütten, die du
eng benachbart glaubtest, liegen einander nun
so ferne, daß von der Türschwelle der einen
die andere dem Blick nicht mehr erreichbar
ist. Und du hörst in nächster Nähe Menschen
und Tiere, die du nicht sehen kannst, gehen
und arbeiten und Rufe ausstoßen. Alles das
hat etwas Märchenhaftes, Fremdes, Entrücktes,
und für Augenblicke empfindest du das Sym-
bolische darin erschreckend deutlich. Wie ein
Ding dem andern und ein Mensch dem andern,
er sei wer er wolle, im Grunde unerbittlich
fremd ist, und wie unsere Wege immer nur
für wenig Schritte und Augenblicke sich kreuzen
und den flüchtigen Anschein der Zusammen-
gehörigkeit, Nachbarlichkeit und Freundschaft
gewinnen.

Verse fielen mir ein und ich sagte sie im
Gehen leise vor mich hin:

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Einsam ist jeder Busch und Stein,
kein Baum sieht den andern,
jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
als noch mein Leben licht war;
nun, da der Nebel fällt,
ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
der nicht das Dunkel kennt,
das unentrinnbar und leise
von Allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Leben ist Einsamsein.

Kein Mensch kennt den andern,
jeder ist allein.

TTNSERE MUSIKBEILAGE.

C. M. v. Webers Lieder haben sich nicht
alle gehalten. „Schlaf Herzenssöhnchen“, „Mein
Schatzerl ist hübsch“ und Preziosas „Einsam
bin ich nicht alleine“ sind freilich zu rechten
Volksliedern geworden; auf Konzertprogrammen
begegnet man fast nur seinen Scherzliedern, z. B.
der „Unbefangenheit“ (Frage mich immer) und
„Wunsch und Entsagung“ (Wenn ich die Blüm-
lein schau). Nun ist ja von den übrigen Kom-
positionen vieles in der Tat veraltet, textlich
wie musikalisch; es geht ja selbst Beethoven
und Schubert so. Aber die Worte des Mädchens
an das erste Schneeglöckchen klingen auch heute
noch echt und lebenswarm, und der knapp ge-
haltene Gesang auf die Zeit, stilistisch ein vor-
weggenommener Carl Loewe, ist vollends stark

und wahr geblieben. Webers genialstes Klein-
werk, der derbe Bauernreigen des alten Voss,
sei bei dieser Gelegenheit gleichfalls erneuter
Aufmerksamkeit empfohlen! G. K.

rUR KRITIK.

In Nr. 5 der Schönen Literatur (Beilage zum Lite-
rarischen Zentralblatt) sagt Ernst Stöckhardt in einer Be-
sprechung des dritten Jahrbuchs der Vereinigung „Heimat-
liche Kunstpflege“, Karlsruhe:

„Emanuel von Bodmann ist mit drei Gedichten ver-
treten. In seiner ,Heimfahrt* lässt er die Geliebte ,mit
bangem Mund in den leeren Gang hinaushorchen‘.
Das ist neu. ,Der grosse Kelch* hätte ,sich fast verkühlt*.
Wirklich hochpoetisch! Auch von den meisten andern
literarischen Beiträgen lässt sich nur sagen, dass sie** usw.

So ein Kürbis! Ich habe mir daraufhin sofort die
Dichtungen Bodmanns beim Buchhändler bestellt. Das
erste der beiden Zitate ist nämlich einfach ein Beweis für
dichterische Anschauung, und Herrn Stöckhardts Tadel ein
Beweis, dass er keiner dichterischen Anschauung fähig ist.
Woran erkenne ich denn, dass jemand horcht, als an seinem
Mund und seinen Augen? An den Ohren kann ich nichts
erkennen, wären es selbst die Ohren Herrn Stöckhardts.
Das zweite Zitat, das von dem verkühlten Kelch, ist sinn-
los, ist unmöglich. Um so schlimmer wieder für den Kritiker!
Denn es beweist, dass er vom fundamentalsten Wesen der
Poesie keine Ahnung hat. Ein paar Wörter aus ihrem Zu-
sammenhang, ja ärger: aus ihrem einzigen Lebenselement,
dem Rhythmus, herauszureissen und dann zu rufen: Da da!
Ein organisches Wesen abzuschlachten, um zu beweisen,
dass es tot sei! Das will Kritik sein. Ich nenne es Mord.

Es gibt schon nichts Widerlicheres, als wenn un-
künstlerische Menschen über Kunst reden. Und man muss
ihnen so oft eins aufs Maul geben, bis sie den Schwanz
einziehen und das Kläffen lassen. Gustav Kühl.

AUS: DER FALL MEIER-GRÄFE.

Von Ernst Schur. (Im eigenen Verlag, Gr. Lichterfelde).

Wir hörten im Lauf der Geschichte von Zeit zu
Zeit immer wieder dieses Lied von der alleinseligmachenden
Delikatesse, Eleganz und Schönheit und absoluten Vollendung
der französischen Kunst. Und die diesem Evangelium
applaudieren, müssen noch recht gläubig sein und unwissend
in der Entwicklung. Man denke an den Zwang, den vor
zwei Jahrhunderten französische Kultur ausübte in Literatur
und Kunst! Man denke an die hündische Anbetung, die alle
Gourmands und Potentaten der französischen Kunst widmeten.
Es gab nur ein Heil und das war in ihr. Und man denkt
an die kulturenge Auffassung, die Friedrich der Grosse von
der deutschen Kultur hatte.

Der richtige Standpunkt ist der, dass die deutsche Kultur
unvollendet ist, sich aber, wenn alle tüchtigen, eigenstarken
Elemente Front machen gegen Nachahmung und Feigheit,
zu einer ungeahnten Grösse und Kraft ganz neuer Art ent-
falten wird. Denn das Geheimnis ist das: Frankreich hat
eine fertige Kultur und kann sich daher den Luxus gestatten,
den solche Tradition ermöglicht. Deutschland hat aber eine
unfertige, aufstrebende Kultur, die noch voll unausgelöster
Kraft ist. Frankreich treibt darum technisches Raffinement,
Deutschland ringt, aus dem Stoff sich noch anregen zu
lassen. Es hat noch keine Form, darum auch keine Formeln.
Die Unterschiede in der Kunstübung und -Auffassung beruhen
also auf Graddifferenzen in den Entwicklungsstufen. Die
zeitweilige Erscheinung als feststehend nehmen und als
Heilmittel fremde Medizin verschreiben — das ist ein ver-
alteter enger Standpunkt. Fremde Medizin und verarbeitete
Nährstoffe in konzentrierter Form aufnehmen, kräftigt keinen
Körper. Hat er keine Kraft, so muss man warten. Er
muss sich aus sich reorganisieren. Und wer dies dennoch
tut, unterbindet die Entwicklung, er macht sich des Mordes
des keimenden Lebens schuldig. Denn wer sagt uns, dass
wir nicht, in eigener Freiheit uns entwickelnd, ganz andere
und neue, uns passende Formen finden?

Herausgeber W. Schäfer, Verlag der Rheinlande (v. Fischer & Franke). Druck A. Bagel, Düsseldorf.
 
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