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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 6
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Hackemann, August: Kleist und Hebbel
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Rüttenauer, Benno: Weltgeschichten in Hinterwinkel, [1]: aus den Denkwürdigkeiten eines schwäbischen Ziegenhirten
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https://doi.org/10.11588/diglit.26233#0303

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KLEIST UND HEBBEL.

chen werden zeitweise gebrochen, Agnes Ber-
nauer und Rhodope gehen zugrunde. Darum
haben aber auch immer beide Teile recht, der
Kämpfende wie der Bekämpfte. So steht Frie-
drich v. Homburg dem verletzten Gesetz gegen-
über, so Klara ihrem Vater. Kleist hätte unser
größter Dramatiker werden können. Hebbel
ist es geworden. Das war ein Glück für ihn
und für uns. Er wurde hineingestellt in eine
Zeit, in der die tiefen Lebensprobleme, an denen
heute noch Kunst und Wissenschaft arbeiten,
langsam emporkeimten. Er faßte mit sicherem
Griffe hinein in das chaotische Gewirr und
holte sich heraus, was ihm zusagte. Er be-
saß die Mittel, den tiefsten Ideen künstlerisch
gerecht zu werden. Sein philosophisch ge-
schulter Blick ließ ihn die Mängel der Schiller-
schen Ästhetik genau erkennen, er baute weiter,
höher hinauf und tiefer hinab in den gefestigten
Grund. Er hatte das Glück, lernen zu dürfen,
wo Schiller, wo Kleist im Dunkeln getappt
hatten. Daß Kleist in erster Linie sein drama-
tischer Lehrer gewesen ist, sofern man bei
Hebbel überhaupt davon sprechen darf, ist un-
verkennbar. — Dafür sprechen seine Volks-
szenen, seine Erzählungen, das beweist nament-
lich Golos alles zerfasernde Dialektik. Aber er
war nicht sein Nachtreter. Von seinem ersten
Drama an stand er ganz auf eigenen Füßen,
schuf er ganz selbständig, wie das Kleist auch
getan hatte. Er ist glücklicher gewesen in
seinen dichterischen Erfolgen, als der Guiscard-
schöpfer. Aber der Tropfen Wermut fehlt

WELTGESCHICHTE IN

HINTERWINKEL.

AUS DEN DENKWÜRDIGKEITEN EINES
SCHWÄBISCHEN ZIEGENHIRTEN.

Von Benno Rüttenauer.
ERSTES KAPITEL

das mit einer Zeitung anhebt und mit einer Predigt schliesst.

Ich hatte meine Ziegen eingetrieben und
saß, die Stunde des Mittagessens erwartend,
mit gekreuzten Beinen auf dem Arbeitstische
des Vaters, der heute auswärts schneiderte.
Vor mir, auf meinen Knieen, lag der neue Uni-
formrock des Polizeidieners Gartumb. Dem
stolzen Kleidungsstücke aus zweierlei Tuch
fehlten, damit es in schönster Vollendung
prange, nur noch die großen gelben Messing-
knöpfe. Diese sollte ich annähen.

Aber meine Hände lagen einstweilen müßig
im Schoß. Und ich sah durch das offene
Fenster, zwischen den hochroten Geranien-
blüten hindurch, nach dem Hause unsers Nach-
bars drüben, des Gerbers, der mit einem
Zeitungsblatt in der Hand vor seiner Tür stand
und daraus zwei jungen Bauern etwas vorlas.

auch bei ihm nicht. Wenige Wochen vor
seinem Tode noch sprach er von seinem
Schmerzenslager aus das dumpf resignierende
Wort: „Das ist Menschenlos, bald fehlt uns
der Wein, bald fehlt uns der Becher,“ als ihm
die Nachricht übermittelt wurde, seine Nibe-
lungen seien mit dem Schillerpreise gekrönt
worden. Und als er schied, da war er noch
nicht im entferntesten so geachtet, wie er es
verdient. Erst in unseren Tagen hat man sich
seiner wieder erinnert. Die Realisten der acht-
ziger Jahre kannten ihn noch nicht oder wollten
ihn nicht kennen; heute gilt es, an seinem
Schaffen, wie an dem dramatischen Wirken
Kleists wieder anzuknüpfen und unsere nervöse
Kunst wieder in Beziehung zu setzen zu der
großen tragischen Unterströmung, die alles Da-
sein durchflutet. Kleist und Hebbel müssen
die Lehrmeister werden für den großen Dra-
matiker des zwanzigsten Jahrhunderts, nicht
allein wegen der genialen Verquickung von
psychologisch feinster Charakteristik und for-
maler Größe, die ihnen eigen war und die
unser heutiges Drama zum größten Teil nicht
besitzt, sondern mehr noch wegen der groß-
artigen Ehrlichkeit, mit der sie an ihre Stoffe
herangingen. Sie suchten sie auszuschöpfen,
nicht weil es Mode war, tragischer Dichter zu
sein, sondern weil es in ihnen dichtete und weil
sie beseelt waren von der hohen Auffassung
ihres Künstlerberufes, die Hebbel das schöne
Wort eingegeben hat: „Nur wo ein Problem
vorliegt, hat die Kunst etwas zu schaffen.“

Der Herr Nachbar von der Eichenlohe hielt
für sich keine Zeitung, er mußte sie beim
Ochsenwirt mitgenommen haben, wo er die
zahlreichen täglichen Schoppen zu trinken
pflegte, deren er bedurfte; denn die Gerber
sind allezeit durstige Leute, weil sich ihnen
der feine Lohenstaub in die Kehle setzt und
immer hinuntergespült sein will.

Diesmal schien der Meister Appel noch
einen Krug mehr als sonst getrunken zu
haben. Sein Gesicht leuchtete noch röter als
gewöhnlich, und seine braunen nervigen Arme,
mit zurückgewickelten Hemdärmeln, gestiku-
lierten mit großer Heftigkeit. Er hatte auch
den einen Zipfel seiner safrangelben Schürze
in den Gürtel hinaufgesteckt, und er rauchte
statt seiner kurzen Pfeife eine Zigarre, zwei
Umstände, die bei ihm auf eine außergewöhn-
liche Stimmung hinzudeuten pflegten.

Nachdem der Meister die Lesung beendet
hatte, schien er deren Inhalt den beiden Hörern
zu erläutern. Am häufigsten und zugleich am
lautesten klang dabei der Name „Preußen“ an
mein Ohr.

Meine Neugierde wurde durch diesen Namen
nicht besonders erregt, ich verband damit nur

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