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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 2
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Schäfer, Wilhelm: Die Wiesbadener Volksbücher
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https://doi.org/10.11588/diglit.26233#0115

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DIE WIESBADENER VOLKS-
BÜCHER. Von W. SCHÄFER.

Nur kurz habe ich bislang auf diese be-
deutende Unternehmung des Volksbildungs-
vereins zu Wiesbaden hinweisen können. Nun
das erste halbe Hundert seiner Ausgaben vor-
liegt, ziemt es wohl, ausführlicher darüber zu
sprechen: Wenn bei uns Dinge unternommen
werden, die sich mit „Volks“ benennen, wie
Volksunterhaltungsabende, Volkskonzerte, Volks-
romane usw., kann man seine Besorgnisse
haben. Der gute Sinn von Volkslied und Volks-
tum ist meist nicht darin, wohl aber ein
Bildungsdünkel, bei dem man nicht weiß, ob
man sich noch ohne Schimpf zum Volk rechnen
darf. Wenn in Deutschland ein Mensch seine
neun Jahre alt wird, entscheidet meist der
Geldbeutel seiner Eltern, ob er weiterhin zum
Volk gehört oder ob er sich in einer höheren
Schule zum gebildeten Menschen erheben darf.
Ich fühle mich nicht berufen, soziale Abhand-
lungen zu schreiben, aber ich sehe ein Un-
glück für unser Volksleben — um es gebildet zu
sagen — für unsere deutsche Kultur in jenem
Bildungsdünkel, der im Besitz einiger illustrier-
ten Ausstellungskataloge, einer Ohnet-und Gustav
Freitag-Ausgabe, sich zur Volkserziehung berufen
fühlt, der gegen die Hintertreppenliteratur Ge-
setze erfleht und Preisausschreiben erläßt und
gar nicht daran denkt, daß seine Vordertreppen-
literatur nur auf besseres Papier gedruckt ist.

Nichts ist ein schärferer Beweis gegen
unsere Bildung, als der „gebildete“ Mensch, und
nichts bezeugt trauriger unsere phrasenhafte
Verlotterung, als die unglückliche Aufteilung
unseres Volkes in zwei sogenannte Bildungs-
schichten; denn das, was die Grundlage alles
Volkstums doch nur sein kann, also auch aller
Kultur, ist das gemeinsame Gefühl eines Volkes.
Wo ist der große Künstler, dessen Werke nur für
die Gebildeten da sind, ist nicht vielmehr das
größte Dichtungswerk der Deutschen, der „Faust“,
in seinen Wurzeln und in seiner Wirkung volks-
tümlicher, als irgend etwas? Und haben wir
nicht einsehen müssen, daß gerade der heftige
Widerspruch gegen die moderne Kunst und
Dichtung, gegen Böcklin wie Keller, von der
Selbstgenügsamkeit der „Gebildeten“ ausging?

Etwas anderes ist es, wenn Fachleute ihr
Wissen und ihren Geschmack gebrauchen, um
ungekanntes Gut zugänglich zu machen. Dies
ist der Fall der Wiesbadener Volksbücher, die,
obwohl in der ersten Absicht nicht völlig frei
von Unbescheidenheit, bald so viel Takt und
Einsicht in ihrer Auswahl walten ließen, daß
ein Volksgut im edleren Sinn daraus geworden
ist; Eine Ausgabe vortrefflicher Erzählungs-
bücher, die zwar durch ihre Billigkeit jeder-
mann zugänglich ist, aber dem Gebildeten
wie dem Ungebildeten gleicherweise zur Freude

dienen kann; ich wenigstens, der ich sonst das
meinige gelesen habe, war ein paarmal höch-
lichst überrascht durch Erzählungen mir un-
bekannter Dichter, und zu einigen, die ich flüch-
tiger kannte, wurde ich durch gut gewählte
Proben hingezogen. Und schließlich, wo ich
die Sachen kannte, war ich erfreut, sie in
dieser billigen Ausgabe jedermann anraten zu
können. Wenn man für io, 15 oder 20 Pfennig
Bücher von Gottfried Keller, Stifter, Raabe,
Liliencron usw. auf gutem Papier sauber und
deutlich gedruckt haben kann: so ist dies nicht
nur alles mögliche, sondern jene moderne Lücke
im sonst vortrefflichen „Reklam“ ist sehr schön
ausgefüllt. Hier muß ich ausdrücklich bemerken,
daß Format und Schrift erheblich größer sind
als bei Reklam.

Die Vorreden sind nicht immer glücklich,
wenn auch solche Entgleisungen vermieden
sind wie etwa in der Hausbücherei der Deutschen
Dichter-Gedächtnis-Stiftung die Einleitung zum
„Michael Kohlhaas“. Auch haben Leute wie
Greinz z. B. schwerlich etwas in einer solchen
Sammlung zu tun; aber im ganzen fühlt man
gern das Walten geschickter Hände, unter denen
die von Professor Liesegang, dem unermüdlichen
Direktor der Nassauischen Landesbibliothek,
wohl die leitenden sind. So kann man freudigen
Herzens diese Sammlung empfehlen, wo der-
gleichen benötigt wird; und auch da, wo man
nicht daran denkt, wieviel Vergnügen und tiefe
Freude aufs billigste zu verbreiten wäre, wenn
man sich bei gelegentlichen Geschenken, bei
Bescherungen oder Stiftungen ihrer bediente.
Jedenfalls sollte es keine Volksbibliothek geben,
darin sie nicht wären; und leicht ist es, mit
ihnen eine neue zu gründen. Es wird so viel
Geld im deutschen Volk unnütz vertan für
billige Klassikerausgaben, die nur zu oft ihrem
vergoldeten Rückentitel zuliebe auf den Bücher-
brettern stehen: es wäre um jedes kleinere
Bürger-, Beamten- und Arbeiterhaus wertvoller,
zunächst die Wiesbadener Volksbücher zu be-
sitzen, es ist vielleicht nicht immer so lesens-
wert wie das, was in den Klassikern steht:
aber es verlockt mehr zum Lesen, weil es nicht
aus der unübersichtlichen Fülle vergilbter Blätter
heraus gesucht werden muß.

* *

*

Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht ver-
fehlen, auch auf die „Rheinische Hausbücherei“
hinzuweisen, die Professor Liesegang neuerdings
im Verlag von Emil Behrend in Wiesbaden
herausgibt. Sie hat mit 4 Bänden des alten
Spinnstuben-Erzählers W. O. von Horn glück-
lich begonnen, und ihren Charakter festgelegt:
bewährte und teilweis vergessene Volksschriften
in gutem Druck neu herauszubringen. Die hüb-
schen Leinenbände zum Preise von 75 Pfg.
(broschiert 50 Pfg.) verdienen sehr, in rheini-
schen Häusern heimisch zu werden.

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