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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 2
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Beringer, Joseph August: Betrachtungen zu W. Steinhausens Griffelkunst
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BETRACHTUNGEN ZU W. STEINHAUSENS GRIFFELKUNST.

seiner seelischen Bewegtheit, zur Künderin
seines Fühlens und Glaubens. Die alle und
alles umfassende Einheit der großen Natur und
das tiefe Erlebnis der großen christlichen Stoffe
sind bestimmend für Steinhausens Kunst. In
der Allgemeingültigkeit ihrer Welten findet seine
Kunstbetätigung das Wort.

„Die Grundstimmung aller Kunst ist Sehn-
sucht“, sagt Steinhausen einmal. Diesen sehn-
suchtsvollen Zug kann man in der Steinhausen-
schen Kunst deutlich verfolgen. Ganz be-
sonders wird er deutlich in seinem graphischen
und zeichnerischen Werk. Die Romantik — die
literarische wie die musikalische ist die
historische Zeit der großen Sehnsucht. Damals
wurde die blaue Wunderblume der Poesie, wie
die große, alles in sich fassende Form der
Musik einer neuen, nach heftigen Erschütte-
rungen erstandenen, Welt gesucht. Steinhausen
wurzelt in dieser Romantik; aber er ist über
sie hinaus zu einer wundervollen Erfüllung
und Harmonie gekommen. Er steht der Erde
und dem Himmel nicht mehr als Begehrender
gegenüber, er ist ihnen als ein Betrachtender
in Ehrfurcht und Liebe verbunden. Schauendes
Erkennen, das mit der quälend-gequälten Welt
nichts mehr gemein hat, Kontemplation, in
sich ruhend und aus sich heraus wirkend, ist
der Endcharakter des graphischen Werkes von
Steinhausen.

In den ersten Schaffensjahren stellt Stein-
hausen die christliche Welt dar, wie er sie
überkommen hat. Die sechs „Bibellesezeichen“
und die „Geschichte von der Geburt unseres
Herrn“ (aus den sechziger Jahren) zeugen davon.
Gegenstand, Situation und Gestaltung gehören
noch ziemlich nahe der traditionellen Form an.
Das ändert sich in den siebziger Jahren. Da
taucht eine neue Welt auf. Es ist bezeichnend,
daß die ersten Werke dieses Entwicklungs-
abschnittes geradezu der Romantik gewidmet
sind: Brentanos „Gedichte“ und „Die Chronika
eines fahrenden Schülers“. Sie eröffnen jähe
Einblicke in das neue Werden.

Sprich aus der Ferne,
heimliche Welt,
die sich so gerne
zu mir gesellt!

Die Sehnsucht wird laut und lauter. Es wogt
und gärt heftig in der Seele des Künstlers.
Die tiefsten, ernstesten Fragen tauchen auf. Es
ist kein Zufall, daß drei der herrlichsten Blätter
dieser Zeit dem Thema Tod gewidmet sind.
Die deutsche Kunst hat immer in den er-
regtesten Zeiten Totentanzbilder geschaffen, wie
man bei Holbein und Rethel sehen kann. Die
Besänftigung in all dieser leidenschaftlichen Be-
wegtheit, in der Sehnsucht nach Klarheit und
Ruhe, nach Harmonie findet der Künstler in der
Natur. Hier hatte er seine „Leidens- und Freu-
densgenossen“. Mit innigster Liebe versenkt sich

Steinhausen in die unendliche, unerschöpfliche
Natur. Hier fand er die Welt rein, unbeschwert,
vollkommen, voll märchenhafter Schönheit, ein
Paradies an Freuden. Hier lernt sich die
Sehnsucht bescheiden. Hier ist der Streit
zwischen dem Körperlichen und Geistigen aus-
geglichen. In der liebenden Hingabe an die
Natur beginnt für Steinhausen das wahre Leben.
Da weichen die Totengesichte. Steinhausen
zeigt uns seine keimenden Hoffnungen in jener
köstlichen Zeichnung der „Flora im Hain“, vor
der der Tod entweicht. Von dieser Zeit an
erhebt sich Steinhausen zu seiner vollen Würde
und Größe als Mensch und Künstler. In der
Natur hat er sich selbst gefunden. Jetzt be-
ginnt jene wundervolle Zwiesprache mit der
Blumenwelt und mit der Natur, in der die Größe
seiner Weltanschauung zum Ausdruck kommt,
die zugleich seinen großen Stil vorbedingt. Die
herrlichen Bilder und ornamentalen Pflanzen-
zierate führen den Blick über die natürlichen Er-
scheinungen hinaus in die übernatürliche Welt.
Steinhausen öffnet uns in diesen Erdentalen
den Himmel. Wie feierliche Engelchöre rauschen
die Wälder und Bäche. Die Lüfte wehen wie
der Odem Gottes durch die Welt. Ewigkeits-
gedanken werden wach. In der gottinnigen
Versunkenheit in die Dinge der Umgebung
vergißt der Künstler die beunruhigende Nähe
der irdischen Mächte. Ängste und Qualen
lösen sich in der großen Liebe. Tod und Ver-
gehen sind nur Formen des Seins, Übergänge
in ihrer Beziehung zum Unendlichen.

Nichts macht die Wandlung, die sich voll-
zogen hat, deutlicher, als jene ergreifenden
Zeichnungen „Ich hört ein Sichelein rauschen“
und die Rötelzeichnung der letzten Jahre „Die
Engel als Schnitter“. — Dort der Tod, gespenstisch
vor dem dunklen Wald stehend, wie er mit
grimmigem Schwung das Saatfeld niedermäht,
während das arme geängstigte Menschlein
mit wehrender Gebärde am Wegrand liegt. —
Hier die stillen hohen Gestalten der Engel, die
mit der Sichel durch das schnittreife Getreide
schreiten, kaum ein Lächeln leiser Trauer
auf den Lippen. — Aus dem Grauen vor der
Zerstörung ist eine fast frohe Erfüllung ge-
worden. Die Versöhnung mit der Welt und
ihren Erscheinungen ist erfolgt durch die Liebe.
In der Sonne dieser Liebe wird alles Wohllaut,
Licht. Steinhausen hat diese wohlige Harmonie
in einer unvergleichlich herrlichen Zeichnung
dargestellt, in der er die Sonne in voller Glorie
über einem Kornfeld aufgehen läßt, dessen reife
Ähren im Aneinanderschlagen mit metallischem
Klang ein vieltausendstimmiges Jubilate zum
Himmel senden. — Wo ist in der deutschen
Kunst ein Künstler, der ein ähnlich heilig-inniges
Blatt so einfach und vollendet zeichnen kann?

Zur selben Zeit, die das Verhältnis Stein-
hausens zur Natur festlegte, tritt auch die

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