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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 3
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Rüttenauer, Benno: Vom Rhein zur Rhone, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.26233#0158

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VOM RHEIN ZUR RHONE.

Schöpfung über alles was die nordische Plastik
an der Grenze der Gotik und Renaissance
hervorgebracht hat.

Nicht aus inneren, nur aus zwei historischen
Gründen (Gründen des Zufalls) kommt Sluter
nicht die Bedeutung zu, wie den Brüdern van
Eyck. Der eine Grund ist: daß schon die
gotische Plastik des Nordens von großer Be-
deutung war, hinter der die gotische Malerei
weit zurückstand. Und der zweite: Sluters
Werk und Schaffen hatte keine Folgen. Die
van Eyck inaugurierten eine der erstaunlichsten
Epochen der Malerei, zogen alles in ihren
Bann. Sluter steht vereinsamt. Neben der
neuen Blüte der Malerei fehlt eine solche der
Plastik. Das Genie seines Volkes war offen-
bar der Kunst Sluters nicht günstig. Sein
Schicksal ist tragisch. Unter günstigeren Ver-
hältnissen hätte er die Bedeutung eines Dona-
tello gewinnen mögen.

Auch sein anderes Monumentalwerk, das
Grabmal Philipps des Kühnen, stand hier in
der Kartause. Dieses ist längst ins Museum
übergeführt und in der Salle des Gardes, dem
einzigen Überbleibsel der alten Herzogsburg,
aufgestellt. Das Monument ist ruhig, groß,
imposant. Die Galerie zahlreicher Statuetten
am Sockel wirkt noch rein gotisch, mag auch
Schülerarbeit sein, aber in der stark realistischen
Gestalt des liegenden Herzogs, die dennoch in
der Gewandbehandlung viel Stilgefühl kund tut,
und in dem Linienschwung der Engel, die
betend zu seinen Häupten knien, ragt das Werk
über die schwächliche Spätgotik ebenso hoch
hinaus, wie die Malerei des Hubert van Eyck.
Das Werk des nordischen Künstlers muß ge-
waltig imponiert haben; als sich später der
Herzog Johann Ohnefurcht ein gleichbedeutendes
Monument stiften wollte, wußte sein Bildhauer,
diesmal ein Spanier, Juan de la Huerta aus
Aragonien, nichts Besseres zu tun, als Sluter im
wesentlichen zu kopieren.

* *

*

Der Burgunderwein scheint doch nicht die
verheerende Wirkung aufs Gehirn auszuüben,
wie es die Herren Abstinenten — oder muß
man sagen Abstinenzler? — von allem Wein
behaupten. Von der höheren Geistesmacht
Frankreichs stammt ein ganz beträchtliches
Quantum aus Burgund. Besonders den Dichter-
gehirnen scheint das gehaltvolle Traubenblut
der goldenen Hügel nicht so durchaus verderb-
lich zu sein. Die großen Häupter der franzö-
sischen Romantik, der rhetorisch-lyrische Hugo
und der poetisch-lyrische Lamartine sind beide
Burgunder. Ihnen schließt sich als dritter
Charles Nodier an, in dessen Leier fast ein
deutscher Ton zu klingen scheint. Der Feuer-
kopf Bossuet stammt aus Dijon. Ebenso der

andere Feuerkopf Bernhard von Clairvaux.
Überhaupt hat diese Stadt mit ihren rund
35 ooo Einwohnern (vor 1870) erstaunlich viel
Genie — im weiteren Sinn des Wortes —
hervorgebracht. Außer den Genannten : Rameau,
Rüde, Piron, Crebillon.

Crebillon der Vater ist gemeint, der Tragöde.
In Deutschland freilich weiß man von ihm
wenig. Hier kennt man nur den Sohn. Er ist
im moralischen Deutschland zwar eine Ent-
rüstungsberühmtheit, aber eine Berühmtheit.
Seine unmoralischen Bücher werden heute ja
bei uns nicht mehr gelesen. Aber daran ist
kaum ihre Unmoralität schuld. Bücher wie
„La Terre“ von Zola und das „Weiberdorf“
von Clara Viebig, also einer vielgelesenen
deutschen Frau, sind gewiß auch moralischer.
Wenigstens pochen sie sehr auf ihren moralischen
Ernst, und die Kritik widerspricht ihnen kaum.
Ich für meinen Teil, wenn ich wählen soll
zwischen hochverfeinerter eleganter Frivolität
und einem grausig unflätigen Ernst . . .

* *

*

Von Dijon fuhr ich hinüber in den Jura
und . . . Aber, halt! Ich kann doch nicht so
frivol sein als ich gemeint habe. Ich habe
doch ein deutsches Gewissen. Und das läßt
mir keine Ruhe. Ich bin beschämt, ich muß
beichten.

Ich habe nämlich die Reise gerade um-
gekehrt gemacht.

Droben auf dem Jura lag ich wochenlang,
droben über Ste. Croix am Mont Chasseron, die
halbe Schweiz wie eine Landkarte zu meinen
Füßen und wiederkäuende Kühe rings um mich
her. Das war eine nervenberuhigende Kur,
wahrlich. Aber gottlob bin ich noch nicht so
weit, daß ich die Ruhe nicht immer sehr
schnell unerträglich finde. Da droben fühlte
ich es Stendhal nach: L’interet du paysage ne
suffit pas ä la longue; il faut un interet moral
ou historique. — Und ich nahm Abschied von
all den schönen Kühen und anderen verwandten
Schönen, und durch die Gegenden, die Stendhal
in seinem Le Rouge et le Noire verewigt hat,
über Verrieres und Pontarlier stieg ich, den
Knotenstock vor mich hersetzend, nieder ins
alte Land Burgund. Ich kam an dem Fort
Joux vorüber und ich dachte, nicht ohne eine
Art Bewunderung, an den großen Schulden-
macher und Revolutionsmacher, an den glück-
lichen Mädchenräuber Mirabeau, denn, wahr-
haftig, einem Kerkermeister zu entfliehen und ihm
zugleich seine schöne Tochter mitzunehmen,
das ist kein gemeiner Streich. Und ich dachte
mit schmerzlicher, ja bitterer Wehmut an den
andern, der da oben geschmachtet, in dem Mauer-
loch, das wie ein Adlernest von seinen spitzigen
Kalkfelsen heruntersah — an den andern, der, ach,

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