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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 5
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Schur, Ernst: Dichter und Rezitator
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https://doi.org/10.11588/diglit.26233#0232

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J. V. Cissarz. Damenporträt.

den Ehrgeiz hat, vor Herrn X. und Frau Y.
hinzutreten und ihnen etwas vorzudeklamieren,
der nehme diese Übungen auf sich. Oder er
lasse die Hände davon, will er nicht ein
Scharlatan sein, der den Leuten Sand in die
Augen streut.

Meinetwegen überwinde er die Regeln und
sei ein Entdecker von Neuland. Aber er muß
wenigstens durch diese „Erfahrungen“ hindurch-
gegangen sein.

Wie steht es nun mit den Berufsrezitatoren?
Kein Zweifel, daß wir da absoluten Mangel
haben. Namentlich an solchen lyrischer Prä-
gung. Kein Zweifel, daß diese Leute, die wir
da meist zu sehen bekommen, die immer so
tun, als hätten sie einen Blasebalg im Leib und
als sei ihr Mund eine Orgelpfeife, greulich sind
und ein feineres Gemüt mit allen Schrecken
gespenstischen Drohens erfüllen.

Diesem Mangel wird aber nicht durch Dilet-
tanten — und seien sie selbst Dichter — ab-
geholfen werden. Vielmehr bleibt uns dann
eben weiter nichts übrig, als zu warten, bis die
Kultur so weit um sich greift, daß auch endlich
die „modernen Rezitatoren“ kommen. Auf
allen anderen Gebieten ist es ja auch so. (Übri-
gens bietet sich den stimmbegabten, intelligenten
jungen Leuten ein ganz neuer, vielseitiger Be-
ruf, der eine Zukunft für sich hat; denn wir
werden immer energischer in der Wortkunst
das „Hören“ betonen, nicht nur im Saal und
abends, sondern im Frühling, im Freien, im
Park, im Garten.)

Auch der Dichter muß sich, will er hier
mitwirken, der Aufgabe energischer Erziehung
unterwerfen. An sich ist er von vornherein —
nicht etwa begünstigt. Produktion und Re-

produktion sind getrennte Gebiete. Halten wir
sie auseinander. Gerade der tiefer Veranlagte
wird sich scheuen, diese Grenzen zu ver-
wischen.

Allerdings wird es jetzt Mode, sich selbst
gehörigermaßen in Szene zu setzen, womöglich
über sich selbst und seine Stellung in der
Literaturgeschichte Vorlesungen zu halten. Das
mag als Zeiterscheinung von Wert sein. Die
Reinheit und Güte der Kulturarbeiten fördert
es nicht. Würden wir den Maler schätzen,
der mit seinem eigenen Werk vor uns hintritt
und uns seine „Absichten“ vordoziert?

Nein, halten wir Produktion und Repro-
duktion getrennt. Wenn aber der Dichter ab-
solut vor ein Publikum hintreten will, das es
immer kitzelt, Personenkultus zu treiben, so
unterrichte er sich über die technischen Vor-
bedingungen der Rezitation. Er ist dann eben
nichts anderes als jeder andere Mensch, der
sich vornimmt zu rezitieren. (Ist er gefestigt
genug, so wird ihm diese Berührung mit dem
großen Kreis der Aufnehmenden lehrreich sein
und er wird vielleicht erzieherische Werte für
sich daraus entnehmen, die seine Produktion
günstig beeinflussen. Vielleicht entdeckt er die
großen Linien einer neuen Kunst, die frei vom
Eng-Persönlichen das Allgemeine sucht. Unsere
Kunst schwankt zwischen der extremen In-
timität des Persönlichen und der Trivialität des
Allgemeinen; die Mitte ist erst zu finden.)

Es ist mehr als zweifelhaft, ob auf diesem
reproduzierenden Gebiet der Dichter befähigt
ist, tiefer zu führen. D. h. ob er durch seine
„Produktion“ vor dem Laien etwas voraus hat.

Man hat gesagt, der Dichter gebe tiefere
Erregungen, er sei „ergriffener“. Mit dieser
„Ergriffenheit“, die der Dichter voraushaben
soll vor dem Berufsrezitator, kommen wir nicht
weiter. Der Dichter ist allerdings „ergriffen“.
Aber in anderer Weise — da er schaffend ist —
als das Publikum, das aufnimmt. Dieses soll
er als Rezitator „ergreifen“, nicht selbst „er-
griffen“ sein. (Ist er es, so ist das eine Sache
für sich; diese Ergriffenheit kann mitsprechen,
ist aber nicht wesentlich.) Der kunstliebende,
intelligente Laie, der immer überlegend bleibt,
an sich selbst als Publikum die Wirkung er-
proben kann, scheint da viel eher berufen, ob-
jektivere Werte zu schaffen in der Reproduktion,
als der von tausend Gesichtern und Erregungen
bedrängte Dichter. Gerade wer hoch von dem
Dichter denkt, wird ihn hier lieber abseits
stellen.

Auch müssen wir über die „Ergriffenheit“
etwas klarer werden. Wir müssen ein wenig
kritisch denken, wenn wir doch schon so „be-
wußt“ sein wollen. Was hat „Ergriffenheit“
mit der Sache zu tun? Ergriffenheit ist ein
Zustand in der werten Person des Dichters.
Was hat diese aber mit der Sache, dem

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