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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 5
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Schur, Ernst: Dichter und Rezitator
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https://doi.org/10.11588/diglit.26233#0234

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W. Straube. Porträt des Präsidenten zur Nedden.

Werk späterhin noch zu tun? Das Werk,
sobald es fertig ist, ist eine Schöpfung, die
sich von den Umständen und Empfindungen
zur Zeit seiner Entstehung, die den Dichter
bewegten, vollkommen loslöst — so soll es
wenigstens sein. Der Zuhörer soll nicht — das
verwirrt nur die plastische Sinnlichkeit und
trübt die künstlerische Klarheit — etwa ein-
geweiht werden in das, was den Dichter be-
wegte (ein weitverbreiteter Irrtum; den Hörer
geht nur das Werk an). Sondern er soll mög-
lichst intensiv zur Sache hingeführt werden,
das Werk soll auf ihn wirken. Die Emp-
findungen, die dieses weckt, mögen ganz andere
sein als die, die den Dichter erfüllten. Und
doch sind sie richtig. Denn sie sind in jedem
Aufnehmenden anders. Dieses Eigenleben führt
eben das Werk. Halten wir diese Grenzen
auseinander. Nur Eitelkeit verlangt, daß der
Hörer dem Dichter blindlings verehrend folge.
Das Werk weckt in dem Hörer wieder eine
neue Welt, und der Dichter als Person sei
vergessen.

Es wird in dieser Beziehung noch viel
zu viel mit dem uralten Bestreben kokettiert, in

des „Dichters“ Nähe zu rücken. Oder, wie es
immer so schön in den landläufigen Bio-
graphien heißt: „einen Blick in des Meisters
Werkstatt zu tun“. Das verwirrt aber nur die
Erkenntnis. Erziehen wir uns auch in der
Kunst zu der -— sozialeren — Anschauung,
den Blick auf das Wesentliche, die Sache, zu
richten. Wer mit seiner Person wirken will,
tritt ein in die Reihe der schlechten Schau-
spieler. Es ist das ein Zeichen dafür, daß ein
Manko besteht, das durch Persönlichkeitswirken
verdeckt werden soll.

Praktisch gesehen, bedeutet für die Rezitation
die „Ergriffenheit“ weiter nichts, als die jedem
Eingeweihten sattsam bekannte Anfängerkrank-
heit in der Rezitationskunst. Sie wirkt be-
sonders auf weibliche und auf Übergangs-
Gemüter, und hier suggestiv. Sie bringt jenes
„Heulen“, jenes „Schwimmen“, jenes „Augen-
rollen“ und die bedeutsame Geste und all die
verführerischen persönlichen Posen. Diese
lenken hin zur Person, aber nicht zu dem
Werk. Sie sollen jenes „Milieu“ schaffen, jene
Stimmung, ohne die das Werk sonst nicht be-
stehen kann. Dieses soll jedoch klar und ehern
losgelöst von der Person vor uns stehen. Und
nicht erst durch die persönliche Geste des
Dichters Gehalt bekommen. Diese Allüren
unterscheiden sich, wenn man recht prüft, in
nichts von dem uralten Gebaren der Rezita-
toren älteren Stils und früherer Tage, von dem
wir uns eben befreien sollen. (Damals war
das erklärlich, es waren meist Schauspieler,
die gewohnt waren, im Hinblick auf größere
Resonanz zu sprechen.) Diese tanzten wie
heulende Derwische vor dem selbstverständlich
„ergriffenen“ Publikum.

In dieser Frage, die hier angeschnitten ist,
tut es, wie wir sehen, viel eher not, daß die
Dichter sich erziehen, als daß das Publikum
sich ändert. (Dieses kann sich nicht ändern,
da es immer Masse ist, was keine Herab-
setzung bedeutet; es stellt als Masse eine be-
sondere Art sozialer Erscheinung dar, die ihre
eigenen Gesetze hat.) Der Rezitator soll hier
der Vermittler sein. Er verdeutlicht, er zeigt
die Bindeglieder, er enthüllt das Wesen einer
Dichtung, macht sie den Zuhörern zugänglich.
Jeder Mensch wird aber wissen, daß dem
Dichter die hierzu nötigen Kardinaleigenschaften
abgehen. Er ist rücksichtslos, gibt sich und
scheut die Erklärung.

Dichter und Rezitator sind verschiedene
Menschen, jeder mit besonderer Tendenz, die
man nicht verwischen soll. Dies zu erkennen,
bedeutet bei der heutigen Lage auch einen
Kulturfortschritt.

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