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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 5
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Voigt-Diederichs, Helene: Bloss ein Mädchen
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https://doi.org/10.11588/diglit.26233#0246

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BLOSS EIN MÄDCHEN.

Suse wurde für einen Augenblick unsicher
und es warnte etwas in ihr, sie solle das Fragen
lassen. Aber das brachte sie noch mehr auf,
sie sprang hoch und sagte fast weinend: „Wenn
du es nicht sagst, dann sage ich, daß du ein
Feigling bist, und dann spiel ich überhaupt nie
mehr mit dir, nie mehr!“

Der Junge erschrak, kämpfte noch ein paar
Sekunden mit sich selbst und sagte dann ganz
zaghaft, mit dem Bewußtsein, daß er etwas
Schreckliches wagte: „Du“.

Einen Augenblick blieb es so still in der
dämmerigen Scheune, daß das schrille Summen
der im Spinnennetz gefangenen Fliege schon
wie Lärm war. Dann aber klang ein Lachen,
beleidigt, ungläubig und voll Verachtung. Das
Mädchen nahm eine Handvoll Staub und warf
sie dem Jungen ins Gesicht, hoffte er würde sich
wehren, fühlte sich dann plötzlich unbehaglich
in der Stille hier und dem braunen Licht und
kletterte absichtlich langsam auf die Deichsel
hinüber. Von dort aus sah sie sich noch ein-
mal flüchtig um, bevor sie vollends niedersprang.
Sie tupfte im Vorbeigehen auf die Radachse,
hielt den Finger hoch mit einem kleinen teer-
duftenden Kranz von Wagenschmiere und
wanderte schnell und immer schneller durch
die lange dunkle Scheune voll Strohgeruch und
Wärme der Tür zu, die weit hinten wie eine
kleine Sonne schimmerte.

Am Wohnhause stand die Mutter und rief
in die Hände, die sie zur Muschel geformt hatte:
„Kinder! alle zu Ti—isch! Ant—wor—tet!“
Antworten taten zwar nur mit hungrigem
Aufquaken die halbgroßen gelblichen Enten, die
in der Speicherpfütze schnatterten. Aber dann
kamen doch von rechts und links in blauen
Schürzen oder grauen Hosen mit dem nach-
lässigen Gang von unbeschlagenen Weide-
pferden oder in kurzem lustigem Galopp die
Kinder heran.

Suse war sehr böse gewesen auf Klaus
wegen des Mädchennamens. Aber das hatte sie
völlig vergessen über der neuen Schmach, und
sie zupfte, als sie mit ihm an der Haustür zu-
sammentraf, kameradschaftlich den Bruder am
Ärmel. Ob er schon wisse, und er solle es
nicht nachsagen, daß der Steinhauer da wär
mit Sprengpulver und schweren Hämmern und
beim großen Stein anfangen solle, der hinten

auf dem moorigen Wiesengrund lag —-

Der lange Tisch war dicht besetzt, ein
Platz jedoch blieb frei, von beiden Seiten be-
drängt wie die Zahnlücke im Mund.

„Wer fehlt denn noch?“ fragte die Mutter
umblickend. „Walter — wo ist der denn!
Hat niemand ihn gesehen?“

Niemand hatte ihn gesehen.

„Suse, er lief doch mit dir?“

Aber Suse hängte sich schief auf ihren Sitz,
fuhr mit der Hand am Stuhlbein auf und nieder,

und daß sie Walter gesehen hatte, das war
schon sehr lange her. Außerdem würde er
wohl noch kommen.

Er kam denn auch, als die Kinder längst
mit der Reissuppe fertig und schon beim zweiten-
mal Pfannkuchen waren. Er ging ein wenig
gebückt und schämte sich offenbar, daß er zu
spät kam, löffelte unruhig seine Suppe und
reichte dann seinen Teller zum Nachessen hin.

„Willst du Zucker dazu oder Saft?“ wurde
er gefragt. Man durfte wählen und sagte natür-
lich immer „Saft“, denn der war rot und das
war der Zucker nicht.

„Zucker,“ stieß Walter achtlos heraus, hatte
dann aber vergessen, daß er schon welchen
hatte, und nahm sich auch aus der Saftschüssel,
die in seiner Nähe stand.

Darüber lachten die Kinder, Suse am laute-
sten, und sie konnte selbst dann noch nicht
ruhig sein, als vom oberen Tischende her des
Vaters ernste Stimme klang: Ruhe bei Tisch!

Walter saß rot und beschämt, und als die
Mutter hinüberlächelte: „Na, sei nur nicht
traurig — und ihr Kinder laßt ihn in Frieden,“
da fing der große Junge zu weinen an, sprang
vom Tische auf und saß den ganzen Nach-
mittag bös und einsam auf dem Vorboden
hinter der eisenbeschlagenen Flachskiste. Kam
jemand vorbei, blätterte er im lateinischen
Vokabelbuch, saß aber dann sofort wieder still,
gepeinigt von dem Wunsche, Suse zulieb und
Suse zum Trotz irgend eine bis zum Himmel
ragende Heldentat zu vollbringen. Die Kraft
dazu gärte in seinem Körper und wurde noch
gestachelt durch die Scham wegen seiner
Tränen und der Anderen Gelächter.

„Wie lange hat Walter noch Ferien?“ fragte
Suse, als sie mit Klaus über das stäubende
Brachfeld gelaufen war, und nun stand und
dem Steinhauer zusah, der Löcher für das
Pulver in den ungefügen Block bohrte.

„Zwei Wochen wohl noch und dann kommt
seine Schwester und holt ihn,“ sagte Klaus
gleichmütig. Ferien, die er nicht hatte, inter-
essierten ihn nicht.

„Gott sei Dank, ich freu mich, wenn wir
ihn los sind,“ platzte Suse heraus. Sie war
enttäuscht, als Klaus nicht weiter einstimmte,
ärgerte sich ein bißchen und hatte keine Lust
mehr, hier den ganzen Tag stillzustehen. Sie
sprang davon, am Rand des Weizenfeldes hin,
und ihre Hand streifte im Lauf über die gold-
grünen Ähren, zärtlich fühlend, wie jede davon
etwas Lebendiges umschloß.

Von nun an bekümmerte sie sich nur grad
so viel um Walter, um ihn als etwas Feind-
liches zu empfinden, wich ihm aus wos ging
und war im übrigen völlig erfüllt von ihrem
herrlichen und geheimnisvollen Leben in Grün
und Sonne den ganzen Tag. Vor allem baute
sie eifrig an ihrer „Klause“, die im Gestrüpp

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