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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 7.1916-1917

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Zehntes Heft (Januar 1917)
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Knoblauch, Adolf: Seidenfaden, [6]
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https://doi.org/10.11588/diglit.37112#0123

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Seidenfaden erklärte Sibillens Bild für das
Scihönste und er näherte sich dringend Dollings
Nestlingen. Abends, wenn der Vater fort war, er-
schien er bei den Kindern und reichte ihnen feines
Marzipan ins Bett. Er kam jeden Sonntag und
brachte Siegfried mit, um ihm die heranreifende
Jugend zu zeigen. Aus den Jöhren waren ent-
zückende fiinke Nüdelchens geworden, mit denen
geiiirtet wurde.
Die brummige Engelslocken-Sibille samt einer
ebenso flachgesichtigen Freundin waren Seiden-
fadens Liebiinge, mit denen er gewandt Tanz-
stunden-Unterhaitung übte. Diese Mädels waren
unnahbar, wenn ihr Verehrer sich um sie bemühte.
War er fort, so hatte Nonne ihre Not, sie in Fran-
zösisch und Aufsatz vorwärts zu bringen. Gegen
eine Gebühr von tägiieh fünfzig Pfennigen durfte
der „Bräutigam" am Famiiien-Mittag teilnehmen.
Er durfte sein biau lackiertes Piano in die Wohnung
bringen und Klavier-Unterricht erteilen. Er setzte
es durch, daß Sibille schließlich allein Klavier-
stunden nahm, denn die anderen Mädels hatten
zu häßlich rote Finger für die Tasten. Die kupple-
rische Sine begünstigte die Idylle, die des Bunten
Blut wärmte, ihm rote Backen machte und dünne
Knabengeberden aus ihm lockte.
Sibille tat, als lernte sie nur Klavierspielen.
Seidenfaden legte häufig weich ihre Finger an die
richtige Taste und führte die Finger, indem er
sich dicht ans warme Mädel schmiegte. Der zag-
hafte Koser warb um die Holde, legte den Arm
sanft vergessen um ihre Hüfte, indem er ihre
nackte Linie nach der Photographie genoß:
„Merkst du ein wenig, wie furchtbar lieb ich dich
habe, Sibille! Sei auch zu mir gut!" Er drückte
seine Lippen auf ihre, indem er den Engelslocken-
kopf in beide Hände nahm.
Sibille mochte das große Ereignis nicht ver-
schweigen. Sie erzählte, daß sie es sich habe ge-
fallen lassen, weil er so drum bat. Katharine
drohte, es dem Vater wiederzusagen. Seiden-
faden war betrübt von Sibillens Kälte und
zweifelte an ihrer erotischen Fähigkeit. Er hoffte,
sie der Erziehung durch proletarische Kinder-
wärterinnen zu entwinden und der Erotik zuzu-
führen. Sibille würde er einmal an die Stelle der
alternden Sine setzen! Sine begann, sich mit
Sibille in die ohnehin geringe Mannheit des Bunten
zu teilen.
* *
*
Seidenfaden siedelte in die Nähe von Dollings,
Er wollte Sibille nahe sein, er haßte Sine, wenn
Sibille in ihrem tantenhaften Schutz zum seltnen
Besuche kam. Er wollte ihre Luft atmen, ihre
Spiele genießen, sich täglich an ihr freuen. Jen-
seits des Bahndammes stand ein einzelnes Haus
inmitten freier mit Kartoffeln und Hafer bestellter
Felder. Gartenland, das in Laubenkolonien aufge-
teilt war, dehnte sich hinter dem Hause bis zum
Bahndamm. Hier wohnte Malz, Wachtmeister der
Kreis-Gendarmerie mit seinen Mädels. In Mälzens
schmucken Laubenkolonien, dem birkengehegten
Teichgelände spielten täglich die Dollinge mit den
Nachbarmädels. Von Mälzens mietete der Bunte
eine Stube und zog mit dem blaulackierten Trödel
ein.
Der Ruf von seiner Verliebtheit war Seiden-
faden im töchtergesegneten Hause Mälzens vor-
ausgeflogen. Die Mädchen hatten vereint seine
neue Stube sauber hergerichtet, und beim Kom-
men des Bunten wimmelte das Haus von jungen
Frauen< ,und süßen Mädels, die auf der Treppe
standen oder neugierig aus den Wohntüren lugten.
Als er ans Stubenfenster trat, blickte er auf die
Blumenbeete, die Birken und Teiche, die Ernte-
wimpel, Lauben und Bänke in den Gärten nieder.

Ländliche Paradieseswonne entzückte den Seide-
nen und er vermeinte noch den Druck zu spüren von
dünnen Knieen, zehnjährigen Armen, nackten
Beinen, die auf der Treppe sich an ihn schmiegten
und schmachteten. Er war der wissend Verfolgte,
der die heimliche Sünde kindlicher Unschuld auf
sich lud, ihre Begierdenflamme am Blitzleiter
seiner Erotik entlud.
Täglich stieg er in Mälzens Garten nieder,
wenn der Dollingschwarm tobte: er lief hinter
einem Dutzend schalkischer Mädels her, um eine
Irmgard, Gertrud, Magda oder Sibille zu kriegen,
sie auf Zöpfe, Mund und Nacken zu küssen, und
um ihn erscholl das Lied: „Bunter im munteren
Alädchengedränge!"
Die Mädchen spielten „Rattenfänger von
Hameln"! Seidenfaden trug eine Laute mit bunten
Wimpeln am seidenen Band nach Art der Wander-
vögel umgehängt und klimperte und sang mit
tiefer Stimme Wandervogellieder. Den braunen
Samthut auf den Locken, im hellen Anzug, in
Lackschuhen mit Seidenflügeln, seidenen Strümp-
fen diente er den lieben Mädels. „Rattenfänger!"
Die Zöpfe flogen um die Wette, und er lief ihnen
nach, als gelte es einer neuen Erotik!
Seine Lieblinge beschenkte er mit seidenen
Haarschleifen und feinem Marzipan, und er nahm
sich heraus, die Lieblinge beim Spiel zu küssen.
Manch Mädel, das in der stolzen, hellen, gold-
kreuzgeschmückten Brust das Gedenken an einen
schmalen schönen Gymnasiasten barg, warf ihm
ein „Pfui" zu und warnte: „Rattenfänger, nimm
dich zusammen! Wenn das die Mutter erfährt!"
Die wilden Mädels äfften Seidenfaden mit
seinem Geklimper nach, sie hüpften vor ihm,
schwangen die fürchterlichen Rattenzöpfe, bargen
sich flink hinter Birken und in Lauben und lockten
den bebänderten Herrn mit Handkuß und Mund-
spitzen, sie zu haschen. Dazu sangen sie, daß es
schallte:
Ich führe euch ins Freudenland
nahebei — ganz nahebei!
Quellen springen, Früchte wachsen,
Blumen prangen, und Alles ist bunt
und fremd und wunderbar.
Sperlinge sind farbiger als Pfaue,
Hunde laufen schneller als Hirsche,
Bienen fliegen ohne Stacheln,
Pferde spannen Adlerflügel!
Rattenfänger führt euch in das Land
nahebei — ganz nahebei!
Mälzens kleiner Stall war der Koppelberg,
dessen Finsternis sich auftat, um den Rattenfänger
samt der verführten Brut zu verschlingen. Viele
Male stolperte der Bunte über Mistgabel oder
Spaten, die ihm zwischen die Beine fielen, oder
Strohwische an der Wäschestange kitzelten ihn
und beschmutzten seine Wimpel. Endlich war er
im Koppelberg gefangen, der Riegel fuhr zu, und
in der Finsternis regnete es von allen Seiten Stroh,
Kartoffelschalen flogen im Kehrichtdunst an Herrn
Seidenfadens geschmücktes Haupt, und tolle
Mädels zupften an den Wimpeln, Seidenflügeln
und Locken.
Endlich hatte er das Tor aufgestoßen, be-
schmutzt, entrüstet rannte er von dannen, hinter
ihm die Mädelschar. Katharinen stand vom über-
mäßigen Lachen ein nasser Fleck vom auf dem
Kleid, sie hatte sich vor Lust naß gemacht.
Schweigstille kugelte sich und biß ins Gras, um
nicht zu platzen. Sibille raste als Führerin der
Radhejagd dicht hinter dem Flüchtigen und schrie
atemlos: „Herr Rattenfänger! Spielen Sie doch
weiter mit uns, noch einmal! Wir klopfen Ihnen
den Staub aus, bitte Herr Seidenfaden!"
* *
*

XV
Alle Dolinge fuhren zum Geburtstag eines
kleinen Vetters, die ganze Verwandtschaft fand
sich beim Familientag ein. Auch Seidenfaden hatte
sich eingeladen und folgte Sibillen nach. Und Sine
fuhr mit Seidenfaden.
Die Kinder hatten zum Festtage als ganz be-
sonderes Geschenk die Erlaubnis erhalten, einmal
ganz unter sich und ohne „Erwachsene" sein zu
dürfen. Der liebesgeduldige Seidenfaden nahm die
Laute mit bunten Wimpeln und trat klimpernd und
aus tiefster Brust singend zu den Kindern in die
Stube. Die Kinder verstummten und der Unge-
betene erklärte hochfahrend, daß er die Er-
wachsenen nicht kenne, sie seien alle beisammen
so langweilig und dumm, daß er lieber bei Si-
billens Freunden sitzen wolle. Die Knaben, die
mit den lieben Mädels gern allein gewesen wären,
fügten sich ins Unvermeidliche, um das Fest nicht
zu stören, und beachteten den „Affen" garnicht.
Ein Knabe stand auf und hielt eine Ansprache
auf das Geburtstagskind. Seidenfaden, der rasend
eifersüchtig war, rief dazwischen: ,,'hab ich allens
mal gelesen", „Stuß! Der wickelt euch ein", „wie
gebüldet!" und er klimperte und sang jeden Satz
dem Knaben nach, um ihn lächerlich vor Sibillen
zu machen.
Als der Knabe zu Ende war, beklagten sich
Alle über die unaufhörlichen Störungen. Seiden-
faden spottete: „Ich hab ihm ja Alles nur nach-
gesungen!" Unwiderstehlich sang der Bunte ein
Lied nach dem Anderen und verdarb gründlich
den frohen Tag.
Fredi fragte: „Wißt ihr, ob Herr Seidenfaden
Sibillen schon geküßt hat. Sine antwortete: „Das
kann jeder wissen! Seidenfaden 'hat Sibille schon
viele Male geküßt/
Am anderen Tage klagte Seidenfaden bei Ka-
tharine: „Auf dem Geburtstag war es doch zu
langweilig!" Katharine brach los: „Daran waren
Sie allein Schuld! Mit Ihrem ewigen Geklimper
und Gesinge haben Sie allen das Fest verdorben!
Alle waren auf Sie wütend! Wir waren ganz
unter uns, dann mischten Sie sich ein und machten
den Affen! Warum waren Sie nicht geblieben, wo
Sie hingehörten?"
Entrüstet, tief beleidigt zürnte der Bunte: „Das
will ich Sibille fragen, ob ich ihr auch das
Fest verdorben habe. Er beraumte eine Klavier-
stunde für Sibille am selben Nachmittag an. Als
er mit ihr allein war, bot er ihr einen Stuhl und nahm
gegenüber Platz: „Sibille, Klavierstunde haben wir
allerdings nicht, wie du weißt. Ich bestellte dich
her, weil ich fragen will, ob ich dir auch den
Geburtstag verdorben habe?" „Allen haben Sie
den Abend mit dem dämlichen Gesinge und dem
gräßlichen Geklimper verdorben! Sie waren
scheußlich gegen die Jungens. Die Jungens waren
noch viel zu anständig und Sie waren ein lang-
weiliger Affe —!"
Seidenfaden sprang hoch, streckte den rechten
Zeigefinger wagerecht aus: „Falsche, dich habe
ich nicht gekannt! Schöne Augen könnt ihr
machen, mich mit den Knieen drücken, mit
Röcken streifen, mich mit Händen und Beinen be-
tasten, küssen laßt ihr euch auf Mund und Augen,
laßt euch das Haar streicheln, nehmt Geschenke
an — pfui, ihr Schamlosen —!" „Seien Sie nur
ganz still, Herr Seidenfaden, ich werde sonst dem
Vater erzählen, was Sie mit mir und den anderen
Mädels für Sachen treiben! Sie laufen arg den
kleinen Mädels nach, das wissen schon Alle, und
Sie graulen Alle von uns weg, weil Sie immer
verliebt sind!" „Lügnerin, du hast gesagt, du lieb-
test mich! Ich werde eurem Vater erzählen, was
ihr Falschen für Sachen treibt mit euren Augen
 
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