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dem
das sich nicht mehr bewegt. Es gehört
allerdings sehr viel Kraft und Energie dazu.
Um ein einziges Kind muss sich äusser der
ganzen werten Familie noch eine Horde von
Lehrern bemühen, um zu dem gewünschten
Resultat der Reife zu kommen. Das Kind
wehrt sich verzweifelt. Aber das stärkste
Gehirn und die gesündesten Sinne er-
schlaffen, wenn ununterbrochen auf ihnen
herumgetrampelt wird. Das Kind sieht
die Farben und stellt sie sinnlich gefasst
zusammen. Es komponiert. Es stellt sie
sinnlich fassbar zusammen. Es rhythmi-
siert. Es wählt die Farben nach ihrer
gegenseitigen Wirkung. Es gestaltet. Das
Material, rhythmisch zu einer einheitlichen
Wirkung zu gestalten, ist Kunst. Jedes
Kind istKünstler. Aus dem schöpferischen
Trieb nach Gestaltung sinnlicher Wahr-
nehmungen entsteht das Kunstwerk. Aus
den Kindern werden Menschen und aus
den Menschen werden Künstler, aber sie
sind es nicht. Weil sie nämlich Kunst
so schlecht lernen, wie sie das Leben
lernen. An Stelle der Triebe werden
Regeln gesetzt. Regeln, die die Summe
von Erfahrungen sind. Nur dass die Er-
fahrungen unsinnliche Abstraktionen sinn-
licher Erlebnisse sind. Die Erfahrungen
der anderen aber sind Begriffe. Sie ver-
hindern die sinnlichen Erlebnisse, also
die schöpferische Kraft, sie machen aus
dem Werk ein Werkzeug. Aus schöpfe-
rischen Kindern entstehen menschliche
Werkzeuge, die andere vielleicht ge-
brauchen, die sich selbst aber nicht ge-
brauchen können. Jeder Sinn und jedes
Glied ist vernichtet, wenn es aus seiner
vielfältigen Befähigung zu einer einfältigen
Betätigung gemissbraucht wird. Das Auge,
das sogar hören kann, verlernt sogar das
Sehen. Das Ohr, das sogar sehen kann,
verlernt d s Hören. Die unendliche Be-
wegung der Glieder wird in eine endliche
Formel festgelegt. Das unendliche Kreisen
des Gehirns in endlose Gedankenketten
gezwängt. Alles wird zum Werkzeug.
Und nicht mit dem Werkzeug, aus dem
Werkzeug soll das Werk gestaltet werden.
Nur eines fällt den Erwachsenen, den
Göttern, gelegentlich auf. Dass ihre
Kinder als Kinder so klug waren und dass
diese Klugheit plötzlich verschwunden ist.
Klugheit und Dummheit sind keine Unter-
schiede der Qualität, sondern der Inten-
sität. Also die Fähigkeit der schnelleren
oder langsameren Auffassung. Das Kind
ist klüger, fasst also schneller, weil es
Senf dazu gegeben. Kunstkritiker
mögen den englischen Senf von
französischen Mostrich auf den Bildern
wenigstens zu unterscheiden und können
danach den Geschmack des Kunstwerkes
werten. Braun ist Schärfe (Monumen-
talität), Grau ist Süsse (Liebe). Durch
Mischung von Grau und Braun entstehen
die Valeurs. Hin und wieder werden die
übrigen Farben als Zwischentöne verwandt.
Das Bild wird selbstverständlich vorher
ganz natürlich festgestellt, indem sich eine
Dame auf den Diwan legt oder ein Greis
sich vor ein Häuschen setzt. Kinder müssen
auf der Landstrasse so tun, als ob sie
laufen, sie dürfen sich aber wegen der
festgestellten Striche nicht bewegen. Die
akademische Kunst beschäftigt sich haupt-
sächlich mit Ganzakten oder Halbakten,
weil sie besonders dazu berufen ist, das
Göttliche im Menschen herauszumalen.
Ausserdem kommt der Körper der Kunst
insoweit entgegen, als er ohne Farbe ist.
In der Musik sind die Harmonien durch
die Gesetze geregelt. Diese Regelung ist so
sinnfällig und so zuverlässig, dass man
nach zwei Harmonien aus Erfahrung schon
die nächsten zehn Harmonien kennt, so
dass man überhaupt nicht mehr zuzuhören
braucht. Durch diese Regelung im Verkehr
mit Harmonien hat sich eine besondere
Befähigung zur ein- bis vierstimmigen
Sangeslust der Kulturmenschheit ergeben.
Auch in der Tanzkunst hat sich diese
Regelung bewährt. Sie ist sogar so ver-
einfacht, dass man diese Tanzschritte, Pas
genannt, in ein bis zwei Stunden erlernt
und für das ganze übrige Leben gebrauchen
kann. Verteilt man alle diese Lehren auf
einige Jahre, so hat man Kunstunterricht
genossen und ist Künstler geworden. Mit
dem Theater ist es am einfachsten. Da
braucht man nur zur Bühne zu gehen.
Die endgültige Feststellung dieser Fest-
stellungen ergibt sich erst im reiferen
Alter, und zwar etwa vom vollendeten
sechzehnten Lebensjahre ab. Dann ist der
Mensch Mensch geworden. Vorher war er
nämlich kein Mensch, vor allem kein er-
wachsener, er war Kind. Oder Jugend.
Die Jugend ist nur zu dem Zweck vor-
handen, damit die reifen Menschen eine
Beschäftigung haben. Sie sind alle Götter
geworden, mit demvollendeten sechzehnten
Lebensjahre und können die Jugend gott-
ähnlich nach ihrem Ebenbilde schaffen. In
sechzehn Jahren kann man das lebendigste
Kind regeln und es als einObjekt feststellen,
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