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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 15.1924

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Reiter, Róbert: Abriss: Gesellschaft Künstler Kunstwerk
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https://doi.org/10.11588/diglit.47214#0088

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DER STURM / ZWEITES VIERTELJAHRHEFT

17. Er schafft: gleichviel, ob verstanden oder unverstanden. Aber er
schreibt oder malt nicht auf diese und gleichzeitig auf jene Weise. Er
kann morgens nicht abstrakt-, abends aber natur-schön schreiben oder
malen. Denn weh denen, die schon auf zwei Füssen zu gehen verstehen
und sich nur deshalb wieder auf alle Viere begeben, um von den anderen
verstanden oder genossen werden zu können.
18. Der Künstler ist Stoff und Geist, Lebensfreude und Asket. Er ist
die Feuersäule, die nicht erlischt, weil Spielzeug, Schellenkappe oder
rhythmischer Leitartikel gefordert werden, wie auch der Leuchtturm nicht
deshalb erlischt, weil das Schiff noch kaum den Hafen verlassen hat und
erst nach Wochen in seinen Lichtkreis gelangen wird.
19. Das Ergebnis des künstlerischen Schaffens ist das Kunstwerk, das
nichts anderes ist, als sich in neuer Form zeigendes universales Leben.
Die Form ist nicht das Gefäss des im Universalen wurzelnden Inhalts,
sondern durch Geist bewegter Stoff: die Möglichkeit und die Art des
Sichäusserns. Ist die die Form nicht gleich mit dem, was in ihr und
durch sie zum Ausdruck kommt: Kunst um des Spieles willen, oder Kunst
um der Tendenz willen. Folglich: Spiel oder Tendenz, aber nicht Kunst.
20. Der Künstler verfolgt mit dem Kunstwerk kein Ziel ausserhalb
des Kunstwerkes: er will dem Schamhügel seiner Geliebten kein
Lächeln entlocken, noch den Proletarier mit einer Guillotinenklinge aus-
rüsten. Das Kunstwerk ist kein verliebtes Girren, das im Schauspiele
der Sexualität die Zwischenzeit der Aufzüge ausfüllt, aber es will auch
nicht überzeugen, enthüllen oder agitieren. Das Kunstwerk ist organisches
Leben und ist als solches bestrebt, seine eigene Existenz in dem All
voll und ganz zu manifestieren.
21. Das Kunstwerk ist etwas aktiv Handelndes, es lebt in sich selbst,
unabhängig davon, ob es andere zu handeln veranlasst oder nicht. Das
mit Tendenz eingeimpfte Gedicht oder Bild lebt nur in der Aktivität
oder Passivität anderer, hat selbst kein Leben und wird, nur zwischen

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