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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 15.1924

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Nebel, Otto: Unfeig
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https://doi.org/10.11588/diglit.47214#0142

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DER STURM/DRITTES VIERTELJAHRHEFT

Vorworte zur Dichtung* UNFEIG
Am reinsten offenbart sich das Gesetz eines Kunstwerks in der FUGE, denn ihre
abstrakte Struktur ist die Urgestalt der künstlerischen Gesetzhaftigkeit selber.
Alle Werkteile geraten sowohl untereinander als auch zum Ganzen unausgesetzt
in rhythmische Beziehungen, und der Hauch der Einung weht aus allen Teilen, die
getragen bleiben vom Atem des Einen, das lebt und bewegt und ruht im Bewegt-
SEIN, auf dem ES beruht.
Die FUGE wurde bisher in der absoluten Musik und in der reinen Malerei angewendet.
Es gibt jedoch keinen sachlichen Grund, diese strenge Gestaltungsform, die jede
werkfremde Willensbetätigung ausschließt, nicht auch aus der absoluten Dichtung
wirken zu lassen.
Wenn erkannt ist, daß die Sprache der Dichtung, oder, treffender formuliert,
die Dichtung der Sprache jedes ihrer Worte als Urwert empfindet, hört, wägt
und zusammensetzt, allso komponiert, und wenn bekannt wird, daß der gedichtete
Sprache- LAUT lediglich eine akustische Variante jenes Innenklangs einer tönenden
Beseeltheit ist, der den Musiker ergreift und zwingt, den Schall-Ton zu formen, muß
die Möglichkeit einer sinfonischen Dichtung eingeräumt werden.
Dazu mag erinnert werden, daß die Sprache des sinnverkehrendenVerkehrs nicht
die Sprache der Dichtung ist. Doch es soll hinzugefügt werden, daß, nachdem jene
kauder- und plauderwelsche Verlauterei, deren sich die Sprachlosen, Vorlauten und
Schreibfinken und Schwatzdrosseln bedienen, um sich zur nichtsnutzen Erhaltung ihrer
atemraubenden Ichtümer, Irrsale und Schindwahne etwas Nichts-Würdiges zu sagen,
zu denkern, zu schrifteln oder anzutippen, — wortgetreu niedergeschwiegen ist, jedes
Wort, das bislang dem Hören entsagte, weil es ein Klischee der Sinnlosen und
Worttauben und Bildblinden war, ein GESCHEHEN des LAUSCHENS wird,
das leis und lauter dem Hören entspricht.
UNERHÖRT sinnig wird es sich allso selber belauschen. Und allso wird es
sich deuten und Vieles in Einem bedeuten. Und so wird es bezeugen, daß nicht
der Wille eines Verstandes dichtet, sondern daß die buchstäbliche Dichtigkeit
eines Urklanges LAUT wird, und daß allso ein GEDICHT kein GEDACHTES
ist, sondern daß es das LAUTEN und LÄUTEN der SP RACHE-SEELE
selber ist, und daß nur der zum Dichter wird, dessen INNIGKEIT Metall genug
birgt, Klöppel und Glocke, allso Werkzeug des Läutens zu sein.

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