6.4. Die Theorieabhängigkeit Klinischer Psychodiagnostik
Die theoretische Perspektive eines Untersuchers und die mit ihr verbundenen Zielvor-
stellungen bedingen auch die Art der psychodiagnostischen Ansätze und Verfahren.
So sind beispielsweise unter einem interpersonellen oder systemtheoretischen Ge-
sichtspunkt die Interaktionen einer Person mit ihrer Umwelt von besonderer Bedeu-
tung, während eine kognitionstheoretische Perspektive die Gedanken, Vorstellungen
und Pläne einer Person fokussieren wird. Idealerweise wird man unter der ersten Per-
spektive die Beobachtungen und Einschätzungen anderer Personen einbeziehen; ein
derartiges Vorgehen liegt einer kognitiv orientierten klinischen Diagnostik eher fern.
In Forderungen nach einer theoriegeleiteten Diagnostik werden meistens nur deren
Vorteile herausgestellt, nämlich die an wissenschaftlichen Zielen ausgerichtete, kon-
trollierte und systematische Vorgehens weise (vgl. Perrez & Waldow, 1984). Die Pro-
bleme setzen dann jedoch bei der Auswahl und Begründung der Theorien ein und bei
dem Unterfangen, das Nebeneinander verschiedener Ansätze zu bewältigen. Da keine
umfassende Meta-Theorie zur Verfügung steht, werden vorzugsweise Partiallösungen
angestrebt, die sich an spezifischen Ätiologietheorien orientieren (vgl. Kap. 6.5.).
In diesem Abschnitt werde ich die psychodiagnostischen Ansätze einiger ausge-
wählter theoretischer Modelle darstellen und anhand von Beispielen veranschaulichen.
6.4.1. Verhaltensdiagnostik
Der verhaltenstheoretische diagnostische Ansatz hat sich aus der Verbindung persön-
lichkeitspsychologischer Modelle mit frühen lernpsychologischen Konzepten entwik-
kelt. In Band 1 sind die allgemeinen Grundlagen dieses Modells {Kap. 2.2.2.3.) und
die konditionierungstheoretischen Störungstheorien (Kap. 5.3.2.) dargestellt. Im Mit-
telpunkt dieses Ansatzes steht ein funktionales Modell gegenwärtigen Verhaltens, mit
dem das beobachtbare Verhalten im Hinblick auf dessen Umweltabhängigkeiten analy-
siert wird. Psychische Störungen werden innerhalb dieses Rahmens als Verhaltensde-
fizite (z.B. mangelndes Durchsetzen eigener Bedürfnisse) oder Verhaltensexzesse (z.B.
übermäßig ängstliches Verhalten) aufgefaßt und den "gesunden" Anteilen ge-
genübergestellt (Verhaltensaktiva, Ressourcen, Kompetenzen oder persönliche Stär-
ken). Danach wird das Verhalten und Erleben einer Person durch auslösende und kon-
sequente Person- und Umweltgegebenheiten funktional gesteuert. Vergangene Erfah-
rungen und die Genese einer Störung erscheinen in diesem konzeptuellen Rahmen als
Lerngeschichte; ein Beispiel für deren diagnostische Erfassung ist der Fragebogen
zur Lebensgeschichte (Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie, 1978b).
Innerhalb des funktionalen Bedingungsgefüges, in das das gestörte Verhalten ein-
gebettet ist, werden kognitive, andere erlebnismäßige sowie somatische Faktoren in
erster Linie als Mediatorvariablen aufgefaßt, die die funktionalen Beziehungen zwi-
schen Verhalten und Umwelt modifizieren. Im Vergleich zu zeitstabilen und situa-
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Die theoretische Perspektive eines Untersuchers und die mit ihr verbundenen Zielvor-
stellungen bedingen auch die Art der psychodiagnostischen Ansätze und Verfahren.
So sind beispielsweise unter einem interpersonellen oder systemtheoretischen Ge-
sichtspunkt die Interaktionen einer Person mit ihrer Umwelt von besonderer Bedeu-
tung, während eine kognitionstheoretische Perspektive die Gedanken, Vorstellungen
und Pläne einer Person fokussieren wird. Idealerweise wird man unter der ersten Per-
spektive die Beobachtungen und Einschätzungen anderer Personen einbeziehen; ein
derartiges Vorgehen liegt einer kognitiv orientierten klinischen Diagnostik eher fern.
In Forderungen nach einer theoriegeleiteten Diagnostik werden meistens nur deren
Vorteile herausgestellt, nämlich die an wissenschaftlichen Zielen ausgerichtete, kon-
trollierte und systematische Vorgehens weise (vgl. Perrez & Waldow, 1984). Die Pro-
bleme setzen dann jedoch bei der Auswahl und Begründung der Theorien ein und bei
dem Unterfangen, das Nebeneinander verschiedener Ansätze zu bewältigen. Da keine
umfassende Meta-Theorie zur Verfügung steht, werden vorzugsweise Partiallösungen
angestrebt, die sich an spezifischen Ätiologietheorien orientieren (vgl. Kap. 6.5.).
In diesem Abschnitt werde ich die psychodiagnostischen Ansätze einiger ausge-
wählter theoretischer Modelle darstellen und anhand von Beispielen veranschaulichen.
6.4.1. Verhaltensdiagnostik
Der verhaltenstheoretische diagnostische Ansatz hat sich aus der Verbindung persön-
lichkeitspsychologischer Modelle mit frühen lernpsychologischen Konzepten entwik-
kelt. In Band 1 sind die allgemeinen Grundlagen dieses Modells {Kap. 2.2.2.3.) und
die konditionierungstheoretischen Störungstheorien (Kap. 5.3.2.) dargestellt. Im Mit-
telpunkt dieses Ansatzes steht ein funktionales Modell gegenwärtigen Verhaltens, mit
dem das beobachtbare Verhalten im Hinblick auf dessen Umweltabhängigkeiten analy-
siert wird. Psychische Störungen werden innerhalb dieses Rahmens als Verhaltensde-
fizite (z.B. mangelndes Durchsetzen eigener Bedürfnisse) oder Verhaltensexzesse (z.B.
übermäßig ängstliches Verhalten) aufgefaßt und den "gesunden" Anteilen ge-
genübergestellt (Verhaltensaktiva, Ressourcen, Kompetenzen oder persönliche Stär-
ken). Danach wird das Verhalten und Erleben einer Person durch auslösende und kon-
sequente Person- und Umweltgegebenheiten funktional gesteuert. Vergangene Erfah-
rungen und die Genese einer Störung erscheinen in diesem konzeptuellen Rahmen als
Lerngeschichte; ein Beispiel für deren diagnostische Erfassung ist der Fragebogen
zur Lebensgeschichte (Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie, 1978b).
Innerhalb des funktionalen Bedingungsgefüges, in das das gestörte Verhalten ein-
gebettet ist, werden kognitive, andere erlebnismäßige sowie somatische Faktoren in
erster Linie als Mediatorvariablen aufgefaßt, die die funktionalen Beziehungen zwi-
schen Verhalten und Umwelt modifizieren. Im Vergleich zu zeitstabilen und situa-
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