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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 2): Klinische Psychodiagnostik, Prävention, Gesundheitspsychologie, Psychotherapie, psychosoziale Intervention — Stuttgart, Berlin, Köln, 1992

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.16130#0419

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12.9. Therapeutische Gemeinschaften

Bei den bisher behandelten Formen institutioneller Hilfe wurde zumeist als Übergang
oder auch als vorläufiger Abschluß der Reintegration, Rehabilitation oder Resoziali-
sation die Zusammenlegung mehrerer Betroffener in sogenannte therapeutische Ge-
meinschaften vorgeschlagen. Unter therapeutischer Gemeinschaft versteht man eine
besondere Möglichkeit des Zusammenlebens der Menschen in der Einrichtung, wenn
mit den vorgegebenen (geplanten) Lebens- und Interaktionsformen ausdrücklich the-
rapeutische und rehabilitative Ziele der Wiedereingliederung verknüpft werden. Die
therapeutische Gemeinschaft ist also keine spezifische Behandlungsmaßnahme, son-
dern sie stellt kontextuelle Bedingungen und Wirkungen bereit, in denen sich spezifi-
sche Ziele der psychosozialen Intervention besser erreichen lassen (Vormann, 1982).

Innerhalb der Abfolge von psychosozialen Maßnahmen in Therapie, Rehabilitation
oder Resozialisierung können therapeutische Gemeinschaften an verschiedenen Stellen
und mit unterschiedlichen Zielstellungen ihren besonderen Platz einnehmen (vgl.
Petzold & Vormann, 1980): z.B. als Möglichkeit des Erlernens neuer zwischen-
menschlicher Umgangsformen im therapeutisch strukturierten Lernfeld einer Station
im psychiatrischen Krankenhaus; oder als Rahmensetzung für familienanaloge Erzie-
hungs- und Lebensformen in der Heimerziehung; oder in Übergangswohnheimen und
Nachtkliniken als beschützter Schritt hin zur Selbst- und Mitverantwortung bei der ge-
sellschaftlich-sozialen Reintegration. Dabei ist zu beachten, daß die Reintegrations-
maßnahmen über den institutionellen Rahmen hinaus zumeist noch in einen größeren
Therapiekontext eingebunden sind (sog. "therapeutische Kette"). Daraus ergeben sich
mancherorts weiterreichende Formen des therapeutischen Zusammenlebens: z.B.
Wohngemeinschaften und Wohngruppen, die von beruflich integrierten Patienten ohne
familiäres Umfeld außerhalb der Klinik bei Erhalt der medizinischen, psychologischen
oder sozialarbeiterischen Betreuung autonom geführt werden.

Historisch geht das Konzept der therapeutischen Gemeinschaft auf die örtliche Zusammenlegung von
Kriegsveteranen in England im zweiten Weltkrieg zurück, als die Kapazitäten zur individuellen Betreu-
ung kriegsbedingter Neurosen nicht hinreichten. Besondere Bekanntheit erreichten damals die Initiati-
ven von Jones, dessen therapeutische Gemeinschaft durch beeindruckende Filmdokumente und durch
seine Publikationen weltweit zum nachahmenswerten Modell avancierten (vgl. Jones, 1976). In den
fünfziger und sechziger Jahren wurde das "living learning in the Community as doctor* (Rapoport,
1960) - insbesondere vorangetrieben in Konzepten der Antipsychiatriebewegung (vgl. Bopp, 1980) -
Teil einer sozialen Bewegung. In dieser Zeit entstanden auch in der Bundesrepublik die ersten thera-
peutisch orientierten Gemeinschaften (vgl. Hergrüter, 1982). Sie existierten vor allem an psychiatri-
schen Krankenhäusern und zielten auf eine Neustrukturierung des Stationsalltags. Ihr Bestehen war sehr
häufig vom Engagement einzelner Personen abhängig, und angesichts der hohen Mitarbeiterfluktuation
in der Psychiatrie verliefen die sowieso nur spärlich gestreuten Projekte bald wieder im Sande. Im
Rahmen der beginnenden Diskussion um eine stärkere Gemeindeorientierung der Psychiatrie wurden sie
zumeist abgelöst durch außerstationäre Projekte: Die Einrichtung therapeutischer Wohngemeinschaften,
Ubergangswohnheime und Wohngruppen in Stadt und Gemeinde gehören seitdem zu den mehr oder
weniger konsequent verfolgten Projekten der psychiatrischen Großkrankenhäuser. Mit der Novellierung

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