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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 2): Klinische Psychodiagnostik, Prävention, Gesundheitspsychologie, Psychotherapie, psychosoziale Intervention — Stuttgart, Berlin, Köln, 1992

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https://doi.org/10.11588/diglit.16130#0062

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6.7. "Klinische Methode" und Klinische Urteilsbildung

Wie einleitend in diesem Kapitel anhand eines Beispiels dargestellt wurde, sind Klini-
sche Diagnostiker in der Regel mit einer Fülle von Informationen konfrontiert. Nicht
nur Testbefunde, sondern auch unmittelbare Eindrücke vom Probanden, dessen Schil-
derungen von seinen Erlebnissen und Erfahrungen, biografische Daten und berichtete
oder beobachtete Umweltgegebenheiten sind zu bewerten, zu gewichten und in einen
Gesamteindruck zusammenzufassen. Zu Beginn und immer wieder während dieses
Prozesses ist zu entscheiden, ob die bisherigen Informationen für eine Entscheidung
über die anstehenden Fragen ausreichen oder ob nicht noch zusätzliche Daten einge-
holt und weitere Quellen erschlossen werden sollen.

Der gesamte diagnostische Prozeß besteht aus drei Schritten, die insgesamt auch als
Klinische Methode bezeichnet werden:

- der Planung und Durchführung der Datenerhebung,

- der Dateninterpretation und

- der Datenintegration.

Über den Ablauf des diagnostischen Geschehens gibt es eine Reihe von Sammeldar-
stellungen (vgl. Jäger, 1986; Jäger et al., 1984; Kaminski, 1970; Leichner, 1983).

Dateninterpretation und -integration werden häufig als Teile dieses Prozesse unter
dem Begriff klinische Urteilsbildung zusammengefaßt. Damit ist die intuitive, auf
klinischem Erfahrungswissen basierende und auf den einzelnen Fall abgestimmte Art
der Informationsverarbeitung gemeint, wie sie überwiegend in der klinisch-psycholo-
gischen Praxis anzutreffen ist. Dieser Terminus ist allerdings in zweifacher Hinsicht
unglücklich (vgl. Scheller & Heil, 1980):

Einmal legt "Urteilsbildung" eine endgültige Entscheidung nahe, die eine diagno-
stische Stellungnahme als unverrückbar und statisch erscheinen läßt. In der Regel wi-
derspricht dies direkt der Absicht, das diagnostische Vorgehen prozeßhaft und dyna-
misch an das jeweilige Geschehen anzupassen.

Zum anderen bezeichnet das Attribut "klinisch" zwar einen Anwendungsbereich, in
dem diagnostische Informationen auf diese Weise verarbeiten werden - jedoch stellen
sich die gleichen Probleme auch in anderen Bereichen der Diagnostik, z.B. im fo-
rensischen oder pädagogischen Bereich.

Um die Qualität dieser intuitiven, am jeweiligen Erfahrungswissen und am Einzelfall
orientierten Urteilsbildung entbrannte eine hitzige Kontroverse, die noch keineswegs
abgeschlossen ist. Seit der Veröffentlichung des Buches von Meehl (1954) wird diese
Kontroverse unter dem Stichwort "klinische vs. statistische Vorhersage" (oder Ur-
teilsbildung) geführt; Meehl selbst hat die heftige Debatte nach drei Jahrzehnten in

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