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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 2): Klinische Psychodiagnostik, Prävention, Gesundheitspsychologie, Psychotherapie, psychosoziale Intervention — Stuttgart, Berlin, Köln, 1992

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https://doi.org/10.11588/diglit.16130#0063

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6.7. "Klinische Methode" und Klinische Urteilsbildung

dem Beitrag "Courses and effects of my disturbing little book" amüsant und ironisch
kommentiert (Meehl, 1984).

Seither werden zwei Strategien der diagnostischen Urteilsbildung unterschieden: In
statistischen Vorhersagen werden die Vorhersage-Variablen anhand von statistischen
Beziehungen kombiniert und gewichtet; die statistischen Beziehungen (Gewichtungen)
müssen in vorangehenden Analysen empirisch ermittelt worden sein. Dagegen be-
zeichnet die klinische Vorhersage die intuitive Zusammenfassung und Auswertung
der Prädiktor-Merkmale auf der Basis klinischer Erfahrungen (vgl. Wiggins, 1981).

Meehl (1954) führte nicht nur diese Unterscheidung ein, sondern verglich beide
Arten der Datenverarbeitung empirisch. Er stützte sich dabei zunächst auf 20 Unter-
suchungen, in denen aus bereits vorliegenden quantitativen Testdaten Prädiktionen
getroffen wurden. Die vorherzusagenden Kriterien waren: Erfolg in irgendeiner Art
von Training oder Ausbildung, Rückfälle unterschiedlicher Art und die Besserung
psychotischer Störungen. Die Genauigkeit der statistisch berechneten Vorhersagen
war in allen bis auf eine Studie vergleichbar oder besser als die von klinischen
Experten getroffenen.

Eine große Zahl nachfolgender Untersuchungen hat dieses Ergebnis bei vielen an-
gewandten psychologischen Entscheidungen wie College-Abschluß, Piloten-Training,
Besserungen von psychisch kranken Personen und sogar Rückfälligkeit auf Bewährung
entlassener Strafgefangener bestätigt. Nach allen vorliegenden Übersichten kann in-
zwischen nicht mehr bezweifelt werden, daß bei dieser diagnostischen Aufgabenstel-
lung - Vorhersage eines gut operationalisierbaren Kriteriumswertes aufgrund vorlie-
gender quantifizierter diagnostischer Daten - durch einfache statistische Modelle prä-
zisere Vorhersagen geliefert werden als durch klinische Experten (vgl. die ausge-
zeichneten Überblicke von Kleinmuntz, 1984; Wiggins, 1981). Dies liegt unter an-
derem auch daran, daß selbst Experten mit ausgezeichneten Vorhersagemodellen ihr
eigenes Modell inkonsistent anwenden und daher Einbußen in ihrer Prädiktionsvalidi-
tät hinnehmen müssen.

Gleichzeitig mit der empirischen Bestätigung setzte allerdings auch die konzeptuelle
Kritik ein, die maßgeblich von Holt (1958, 1970) geprägt wurde. Zur Bewertung die-
ser Ergebnisse wurden von Holt und anderen folgende Gesichtspunkte in die Debatte
eingebracht:

- In den meisten Fällen, in denen Vorhersagen zu machen sind, lassen sich die Krite-
rien nur schwer operationalisieren; zudem fehlen oftmals ausreichende empirische
Daten darüber, wie die Prädiktoren mit den Kriterien zusammenhängen.

- Bei der auf persönlichkeitsspezifische Merkmale gestützten Kriteriumsvorhersage
werden situative Bedingungen weitgehend vernachlässigt, u.a. auch in ihren inter-
venierenden Funktionen.

- Nicht-quantifizierte diagnostische Daten werden vernachlässigt.

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