10.2. Werte, Normen und Ziele in der Psychotherapie
Psychotherapie ist immer mit nor-
mativen Wertsetzungen verbun-
den - angefangen bei der Ent-
scheidung darüber, welche Perso-
nen als "gestört" und behand-
lungsbedürftig angesehen werden
bis hin zu konkreten Fragen der
psychotherapeutischen Zielsetzung
und der Behandlung. In diesem
Kapitel werden zunächst allge-
meine Fragen der Werte und Nor-
men in der Psychotherapie und an-
schließend die verschiedenen the-
rapeutischen Zielsetzungen darge-
stellt und diskutiert.
# Werte und Normen in der Psychotherapie
"Psychotherapie ist eine moralische Kraft und entsprechend sind Psychotherapeuten
ebenso Vertreter der Moral ('moral agents') wie Techniker des Heilens ('healing
technicians')" (London, 1986, S.l; Ü.d.A.). Mit dieser pointierten Äußerung weist
der Autor nachdrücklich darauf hin, daß Psychotherapeuten eine doppelte Rolle wahr-
nehmen: Für Klienten und Psychotherapeuten ist vieles in der Therapie eng verknüpft
mit persönlichen Lebenszielen sowie individuellen und sozialen Wertsetzungen. In ei-
ner Reihe von psychotherapeutischen Ansätzen wird es als ein zentrales Anliegen der
Behandlung angesehen, daß sich Klienten über ihre eigenen (Lebens-)Ziele klar wer-
den. Beispielsweise wird die Abklärung der persönlichen Werte und Ziele in der Indi-
vidualtherapie Adlers als wesentlicher Prozeß der therapeutischen Veränderung aufge-
faßt: "Man kann Adlers Psychologie wohl als Teleoanalyse (d.h. Analyse persönlicher
Ziele und Werte, R.B.) ansehen, da wir die Erkenntnis und die Veränderung der Ziele
des Menschen als die Basis unserer korrigierenden Bemühungen ... betrachten" (Drei-
kurs, 1969, S.13; vgl. auch Titze, 1979). In ähnlicher Weise sehen Goulding &
Goulding (1981) die Essenz des psychotherapeutischen Prozesses in "Neuentschei-
dungen", Frank (1973) hingegen in der Beseitigung von Demoralisierung, Verzweif-
lung und des Stillens des Hungers nach unterstützenden menschlichen Kontakten.
Yalom (1980) wiederum rückt die Bearbeitung existentieller Probleme wie Tod, Frei-
heit, Isolation und Bedeutungslosigkeit in den Mittelpunkt. Ryle (1982) betont die
Entwicklung der menschlichen Fähigkeit zur Exploration und zur (freien) Entschei-
dung. Über die konkrete Gestaltung der Zielsetzungen in der Psychotherapie hinaus
erscheint hier die Be- und Erarbeitung persönlicher Lebensziele und existentieller
Fragen als zentrale Aufgabe der Psychotherapie.
In jeder psychotherapeutischen Behandlung stellt sich somit die Frage nach ihrer
Wertbezogenheit; eine "moralische Neutralität" kann es in der Psychotherapie nicht
geben. Bereits bei der Ausgangsfrage, welche Verhaltens- und Erlebnisweisen als
normal oder als gestört angesehen werden, spielen normative Wertungen und soziale
191
Psychotherapie ist immer mit nor-
mativen Wertsetzungen verbun-
den - angefangen bei der Ent-
scheidung darüber, welche Perso-
nen als "gestört" und behand-
lungsbedürftig angesehen werden
bis hin zu konkreten Fragen der
psychotherapeutischen Zielsetzung
und der Behandlung. In diesem
Kapitel werden zunächst allge-
meine Fragen der Werte und Nor-
men in der Psychotherapie und an-
schließend die verschiedenen the-
rapeutischen Zielsetzungen darge-
stellt und diskutiert.
# Werte und Normen in der Psychotherapie
"Psychotherapie ist eine moralische Kraft und entsprechend sind Psychotherapeuten
ebenso Vertreter der Moral ('moral agents') wie Techniker des Heilens ('healing
technicians')" (London, 1986, S.l; Ü.d.A.). Mit dieser pointierten Äußerung weist
der Autor nachdrücklich darauf hin, daß Psychotherapeuten eine doppelte Rolle wahr-
nehmen: Für Klienten und Psychotherapeuten ist vieles in der Therapie eng verknüpft
mit persönlichen Lebenszielen sowie individuellen und sozialen Wertsetzungen. In ei-
ner Reihe von psychotherapeutischen Ansätzen wird es als ein zentrales Anliegen der
Behandlung angesehen, daß sich Klienten über ihre eigenen (Lebens-)Ziele klar wer-
den. Beispielsweise wird die Abklärung der persönlichen Werte und Ziele in der Indi-
vidualtherapie Adlers als wesentlicher Prozeß der therapeutischen Veränderung aufge-
faßt: "Man kann Adlers Psychologie wohl als Teleoanalyse (d.h. Analyse persönlicher
Ziele und Werte, R.B.) ansehen, da wir die Erkenntnis und die Veränderung der Ziele
des Menschen als die Basis unserer korrigierenden Bemühungen ... betrachten" (Drei-
kurs, 1969, S.13; vgl. auch Titze, 1979). In ähnlicher Weise sehen Goulding &
Goulding (1981) die Essenz des psychotherapeutischen Prozesses in "Neuentschei-
dungen", Frank (1973) hingegen in der Beseitigung von Demoralisierung, Verzweif-
lung und des Stillens des Hungers nach unterstützenden menschlichen Kontakten.
Yalom (1980) wiederum rückt die Bearbeitung existentieller Probleme wie Tod, Frei-
heit, Isolation und Bedeutungslosigkeit in den Mittelpunkt. Ryle (1982) betont die
Entwicklung der menschlichen Fähigkeit zur Exploration und zur (freien) Entschei-
dung. Über die konkrete Gestaltung der Zielsetzungen in der Psychotherapie hinaus
erscheint hier die Be- und Erarbeitung persönlicher Lebensziele und existentieller
Fragen als zentrale Aufgabe der Psychotherapie.
In jeder psychotherapeutischen Behandlung stellt sich somit die Frage nach ihrer
Wertbezogenheit; eine "moralische Neutralität" kann es in der Psychotherapie nicht
geben. Bereits bei der Ausgangsfrage, welche Verhaltens- und Erlebnisweisen als
normal oder als gestört angesehen werden, spielen normative Wertungen und soziale
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