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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 22.1930

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Heft 3
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Giedion, Sigfried: Le Corbusier und das neue Bauen
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https://doi.org/10.11588/diglit.27696#0101

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LE CORBUSIER UND DAS NEUE BAUEN

VON S. GIEDION

Das Gebiet des neuen Bauens ist viel weiter, anonymer und das Einzelpersönliche über-
ragend7 als daß ein einziger Name darnit identifiziert werden könnte. Das liegt in der
ganzen Zielsetzung der Bewegung, die heute genau umschrieben werden kann. Ein-
mal: In den Baumethoden, den IJbergang vom handwerklichen zum industriellen l’ro-
duktionsprozeß durchzuführen und durchzusetzen. Dann aber: An Stelle der Fassaden-
architektur jeder Prägung, die heute wie im 19. Jahrhundert mit Hilfe behördlich-
ästhetischer Forderungen die Funktion des Hauses erstickt, biologische Forderungen
zu setzen.

Industrieller Produktionsprozeß und weitgehende Bücksichtnalime auf die menschlichen
Bedürfnisse zeigen an, daß das neue Bauen nur durch kollektive Verknüpfung ver-
schiedenster Disziplinen möglich sein wird. Tatsächlich ist die Bewegung durchaus
nicht in einer einzigen Hand, sondern wird von den verschiedensten Seiten her ange-
faßt. Wir werden noch darauf zurückkommen, wie diese Verteilung geschieht.

Wenn der Name Le Corbusier allmählich in das allgemeine Bewußtsein eingesickert
ist, so dürfte es Zeit zur Nachprüfung sein: Worin besteht eigentlich seine Leistung?
Das großzügig, fast verschwenderisch, mit Bildmaterial ausgestattete Werk, das kürz-
lich im Verlag Girsberger-Züricli erschienen ist, gibt Gelegenheit zur Nachprüfung .
Es scheint mir das Verdienst dieser Veröffentlichung zu sein, daß vielfach unbekanntes
Material — vom Entwurf einer Kunstgewerbeschule 1910 bis zu dem Raum mit
Standardmöbeln Salon d’automne 1929 — das bisherige Bild ergänzt.

Als mir Corbusier, der gerade von Rußland kam, von dem Plan des Verlegers und den
beiden Architekten erzälilte, fragte ich ihn, ob er sich schon ein Mausoleum setzen
lassen wolle. Heute sehe ich, daß die Zusammenstellung in Verbindung mit der mensch-
licli ergreifenden Einleitung Corbusiers ein unentbehrliches Zeitdokument ge-
worden ist.

Es ist tatsächlich kein Mausoleum, es ist eine Teilabrechnung, eine vorläufige Bilanz.
Eine ungeheuere Lebendigkeit bricht aus den 600 Abbildungen hervor. Von neuem

1 Le Corbusier und Pierre Jeanneret. Ihr Werk gesammelt und herausgegeben von O. Sto-
norow und W. Boesiger Verlag Dr. H. Girsberger, Zürich 1930. 324 Seiten. 600 Abbildungen.

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