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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 2.1927

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Gellhorn, Alfred: Formung der Grossstadt
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https://doi.org/10.11588/diglit.13210#0063

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Reizen verloren geht, die im Zufälligen lie-
gen. Nicht das Handgelenk mit seinen Aus-
wirkungen persönlicher Stimmungen, nicht
der geschickt gewählte Ausschnitt des Bil-
des, nicht einmal die Valeurs, wie sie Endeil
im Sinne Whistlers dem feinen Grau des
Großstadtnebels dankt, bedeuten uns eine
ausreichende Begründung, sondern der dem
Inhalt abgerungene Sinn, der in der abso-
luten Gestaltung Ausdruck findet.
Ebenso wie Zilles Sittenbilder letzten Endes
selbst das Elend verklären, so daß man es
ungern aufgehoben sich denken mag, wäh-
rend die nächste Generalion in Groß unmit-
telbar aggressiv wird, kann man solche Än-
derung der soziologischen Einstellung auch
verfolgen in der ganzen Tendenz der moder-
nen Kunst, che unmittelbare Eingliederung
in die Aufgaben des lebendigen Lebens un-
verkennbar fordert. Verklärte für Endeil
die Atmosphäre eine triste Brandmauer zum
Erlebnis, so sind wir heule gesonnen, sie als
solche, das „Ding an sich", wenn man will,
zu einer eignen Funktion auszubilden so,
daß sie zum Ganzen stimmt und keiner
Mystik bedarf. Und selbst das Romantische
in der Archileklur scheint aussichtsvoller,
weil im Notwendigen verankert, in den Ar-
beilen der sogen. Funktionalisten als in der
bloßen Beziehung auf die Erscheinung, wie
sie Behrens meint.

Für eine durchgreifende Erfassung der
eigentlichen Probleme ist völlige Pietät-
losigkeit gegenüber Überkommenem Vor-
aussetzung. Verbunden mit reeller techni-

scher Gesinnung und einer so gerichteten
Verantwortlichkeit, kennzeichnet sie das
heutige Schaffen. Kein Kapitel erfordert
das mehr als die Großstadtfrage. Und keine
Großstadt ist darin ergiebiger als Berlin.
Es ist nicht aus einem einzigen Kern her-
aus entstanden wie andere Städte, wo
sich eine bestimmte Formel der Verkehrs-
auflüftung ergibt, die mit individuellen Ab-
wandlungen überall zutrifft. Sondern hier
sind viele Ortschaften zusammengewachsen
und verfilzt, und die Mitte, die Friedrich-
stadt, eignet sich mit ihrer unorganischen
Geometrie besonders schlecht, in der üb-
lichen Weise neue Adern zu schaffen, die
den gesteigerten Anforderungen zu ent-
sprechen. Zudem ist die Ausdehnung so ge-
waltig, daß man auf die Dauer nicht ein-
fach zu Neuanlagen schreiten kann, weil
dann alles viel zu weitläufig wird und der
Verkehr noch ungesündere Ausmaße erhält.
Also muß man mit dem ganzen Rüstzeug
des Städtebaus auffahren, muß Kopfbahn-
höfe unterirdisch miteinander verbinden,
— denn wozu haben wir sonst die Elektrizi-
tät? — muß systematischer als bisher
(unter reiner Herrschaft der Terraingesell-
schaften) siedeln, muß ganze Stadtviertel
sanieren wie das als Dauermesse von jeher
tatsächlich funktionierende der Ritter-
straße, wo man statt riskanter Neuanlagcn
an der Peripherie ein Vielfaches an Nutz-
fläche gewinnen kann, wenn man zelmstok-
kige Spezialbauten an entsprechend breiten
Straßen errichten wollte. Man muß auch

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