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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 8.1933

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Tillich, Paul: Das Wohnen, der Raum und die Zeit: Rede, gehalten zur Einweihung des Hauses auf dem Küssel in Potsdam
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https://doi.org/10.11588/diglit.13209#0022

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die Polarität, in der die Mächtigkeit menschlichen Seins zum
Ausdruck kommt, in der der Mensch sich Raum und damit
Existenz schafft.

Mit diesem äußeren Hinausgehen ist verbunden ein inneres.
Der Mensch ist das Wesen, das bei nichts Gegebenem stehen
bleibt, sondern darüber hinausdrängt zu etwas Aufgegebenem.
Er begnügt sich nicht mit dem, was ist, sondern hat ein Bild
von dem, was sein soll, er entwirft und gestaltet über der
vorgefundenen Welt eine zweite von ihm geschaffene Welt.
Er schafft bewußt und gestaltet den Raum, der sein Raum
sein soll. Dabei wirkt sich sofort die Polarität aus, die schon
im Tier zu beobachten war und die im Menschen maßgebend
wird für die Gestaltung seines Raumes. Auf der einen Seite
der Wille, sich möglichst abzugrenzen vom unendlichen Raum,
das Haus zur Höhle zu machen, zum Mutterleib. Und der
Wunsch, in diesen abgegrenzten Raum hinein zu nehmen Ab-
bilder des pflanzlichen und tierischen Daseins, das so herein-
geholt wird in den eigenen Raum, in Formen und Farben der
Möbel und Wände. Auf der anderen Seite der Wille, den
begrenzten Raum sich auflösen zu lassen in den unendlichen
Raum, nichts hineinzunehmen als das, was mit dem Sinn des
Wohnens notwendig verbunden ist, sich weit zu öffnen gegen
den Weltenraum und alle Formen, die er in sich trägt, die
draußen bleiben, und doch wie Licht und Luft hereinströmen
in den begrenzten Raum. Der Typ, der nicht wieder zurück
will in die Höhle, in den Mutterleib, der hinaus will in die
Unendlichkeit.

Weil das Raumschaffen des Menschen die Art ist, in der er,
wie alles Lebendige, zum Sein kommt, so gibt es eine ursprüng-
liche Heiligkeit des Raumes. Zuerst und vor allem
die Seite jedes Raumes, die den Charakter des Tragenden,
ursprünglich Begrenzenden hat: der Boden. Die Hausgötter
sind die Götter des Bodens, auf dem das Haus steht; und
oft genug ist ihnen blutig geopfert worden. Darin gleicht das
Haus der Bodengebundenheit des pflanzlichen Daseins. Aber
raumbegrenzend ist nicht nur das eigene Haus, sondern auch
das Nachbarhaus, ist der Ort, die Stadt, in deren Bannkreis
ein Haus steht, ist die Landschaft, ist das Volk und sein Boden.
Und sie alle nehmen teil an der Heiligkeit des Raumes, der
uns Existenz gibt. Aber die raumschaffende Kraft des Menschen
geht auch über diese Grenzen hinaus und sucht die Erde
umzuschaffen zu dem einheitlichen Haus der Menschheit, und
löst dadurch los von jedem besonderen Boden. Damit aber
wird menschliches Raumschaffen zum Schaffen immer wach-
sender Lebensräume, es wird zum Schaffen vom Raum im Fort-
schritt der Zeit. Und die Zeit wird mächtig über dem Raum.

II.

Der Raum der bloßen Erfüllung hat kein anderes Verhältnis
zur Zeit, als daß er dauert in der Zeit. Inniger schon ist die
Beziehung des vegetativen Raumes zur Zeit, das Pflanzliche
hat Jugend, Reife, Alter als prägende Momente seines Lebens-
prozesses in sich. Und im Animalischen wird Zukunft vorweg-
genommen und Vergangenheit klingt nach. In der Innerlichkeit
des Animalischen treffen sich Erwartung und Erinnerung und
schaffen die Dreifaltigkeit der Zeit. Im Menschen endlich wird
die Zeit unendlich wie der Raum. Der Mensch nimmt Zukunft

voraus in unbegrenzter Ferne. Die kommenden Jahrmillionen
bedeuten für ihn ebenso wenig ein Ende wie die vergangenen
Jahrmillionen einen Anfang. Er geht über jede Gestaltung,
auch über jeden gestaltenden Raum hinaus, auf etwas Neues
zu; und im Neuen ist die Grenze des alten Raumes und der
alten Gestaltung durchbrochen.

Freilich: die Zeit kann den Raum nicht aufheben. Die Zeit
gewinnt Gegenwart nur im Raum, Gegenwart ist der raumnahe
Modus der Zeit. In der Gegenwart, und nur in der Gegen-
warf, einen sich Raum und Zeit. Wer Raum hat, hat Gegen-
wart, wer noch keinen gefunden hat, noch ohne Lebensraum
ist, lebt in die Zukunft hinein, um aus ihr heraus sich Gegenwart
zu schaffen. Hat er aber Raum, d. h. Gegenwart gefunden,
so treibt ihn die Macht der Zeit, die Macht menschlichen
Sich-Zeit-Schaffens hinaus in die Zukunft, denn die Zukunft ist
der Modus, durch die Zeit „Zeit" wird. Sich Zeit schaffen,
das heißt sich Zukunft schaffen, und das reißt heraus aus der
Gegenwart, aus dem Raum. Wir müssen wieder und wieder
den Raum verlassen, der uns umfängt, um der Zeit, um der
Zukunft willen. Wie wir ihn verlassen mußten, als wir geboren
wurden. Das Wort an Abraham, das ihm gebot, hinauszugehen
aus seinem Lebensraum in eine unbekannte Zukunft, ist symbo-
lisch für Menschsein überhaupt. Es ist symbolisch auch besonders
für den Geistes- und Gesellschaftskampf unserer Gegenwart,
dessen tiefster Grund der ist, daß die Götter, die Mächte des
begrenzten Raumes, sich wehren, herausgerissen zu werden
in einen umfassenderen Raum, in einen Raum der Menschheit
und eine Zukunft, in der menschliches Sein sich neu erfüllt.
Es ist, als ob die Vorstöße, die die Menschheit in Richtung
auf den einheitlichen Raum gemacht hat, die Dämonen des
Bodens gereizt und noch einmal zu höchster Kraftentfaltung
getrieben hätte. So sehen wir heute vor allem den Kampf von
Raum und Zeit, nicht ihre Einheit in erfüllter Gegenwart.

Jedes Haus sucht eine solche Gegenwart im begrenzten
Raum zu geben. Jedes Haus ist eine Erfüllung menschlichen
Sich-Raum-Schaffens, menschlicher Sehnsucht nach Gegenwart.
Aber jedes Haus ist auch eine Gefahr, daß den Gottheiten des
begrenzten Raumes, daß dem Hausgott Opfer gebracht
werden, die ihm nicht zukommen. Euer Haus hat einen Mittel-
punkt, der ein Symbol sein kann für eine wahre, undämonische
Form des Sich-Raum-Schaffens: Die Brücke von einem Haus
zum anderen, der Raum, durch den zwei Räume, zwei Haus-
gottheiten, in einen gewandelt sind. So ist Euch ein Doppeltes
gelungen, Euch und den Freunden, die in Eurem Geist gebaut
haben: Räume zu schaffen, in denen die Spannung aus-
geglichen ist zwischen dem Willen, sich abzugrenzen, sich zu
schützen vor der einsaugenden Unendlichkeit des Raumes, und
dem Willen vorzustoßen in den unendlichen Raum, heraus-
zugehen aus der tragenden und zugleich engmachenden Höhle.
Und zugleich: Ein Haus zu bauen, dessen Raum die Einheit
zweier Räume ist, ein Haus, das ein Symbol ist jener Einheit
von Raum und Zeit, die bereit ist hinauszugehen aus jedem
begrenzenden Raum, aus jeder Gegenwart, in die Zukunft.
Möge das kommende Leben in diesem Hause das zur Erfüllung
bringen, was sein schönes Symbol ausdrückt: Brücke zu sein
der Räume, und Bogen zu sein der Zeiten.

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