Wer gestaltet die Massenware?
W. M. KERSTING, BERLIN
Der Ingenieur kann behaupten, daß er fast alle Geräte
unseres Bedarfes formt. Er gibt tatsächlich den meisten Waren
die äußere Gestalt, vor allem der Massenware; da es fast
nur noch Massenware gibt, greift der Ingenieur oder der Kon-
strukteur wohl immer irgendwie ein.
Im Maschinenbau hat sich eine Formensprache entwickelt,
die jeder Ingenieur benutzt. Die technische Formensprache
ist teilweise in Normen festgelegt. Im übrigen ergibt sich aus
dem Zweck und dem Material meist schon recht viel von der
Form. Daß man bei gleicher Maschinennutzleistung aber schöne
und weniger schöne Maschinen bauen kann, ist bekannt. Es gibt
also im reinen Ingenieurberuf schon etwas wie künstlerische
Gestaltungskraft.
Im Gebiet der Massenware verschiebt sich der Schwerpunkt
vollends auf die Erscheinung der Dinge, auf die mehr
oder weniger vollendete Form. Auch hier ergibt sich aus
Zweck und Material schon sehr viel, aber keineswegs alles.
Wenn wir nun die Massenware betrachten, so sehen wir
neben den guten Formen eine erschreckende Zahl von
schlechten Formen. Der Ingenieur, der sich beim Entwerfen
von Maschinen sicher fühlt, verliert diese Sicherheit sofort,
wenn er etwas fabrizieren soll, das frei gestaltet werden muß.
Er wird dann rührend hilflos und verliert den Blick für Propor-
tionen, er macht Anleihen bei vergangener Kunst und verfällt
auf Mätzchen.
Die guten Formen der Massenware sind manchmal das
Ergebnis langer Entwicklungen. In günstigen Fällen haben viele
wertvolle Kritiker an der Vollendung der Form gearbeitet.
Meist in langen Zeitabständen, nach vielen Irrwegen. Dieser
Weg ist eben der lange Umweg, der im Glücksfalle auch
zum Ziel führt; ein böser Weg, denn Hunderttausende der Fehl-
formen gehen zuvor ins Volk.
Der begabte Gestalter kürzt diesen Weg ab. Die Fehlver-
suche verlassen erst gar nicht das Werk. Er durchläuft den
mühsamen Weg zur guten Form an Hand von provisorischen
Modellen.
Die wenigen guten Formen der Massenware stammen
zumeist von den begabten Gestaltern unter den
Ingenieuren und Technikern — manchmal auch von künstle-
rischen Mitarbeitern, von Architekten, die gelegentlich heran-
gezogen werden —, selten von Handwerkern.
Unter den Ingenieuren gibt es mehr formbegabte Kräfte,
als ausgenutzt werden, — aber hier findet noch keine Auslese
statt, weil der Beruf des „Ingenieurkünstlers" in unserem Sinne
noch nicht entdeckt ist. Es gibt auch keine Schule, die die künst-
lerische und handwerkliche Ausbildung dieses Ingenieurs pflegt.
Auf der anderen Seite finden sich unter den freien Künstlern nur
v/enige, die die Technik der Massenwarenherstellung genügend
beherrschen. Unsere Kunst- und Kunstgewerbeschulen vermögen
das nötige Ingenieurwissen hierzu nicht zu vermitteln. Und
doch muß der künstlerische Berater auch Ingenieur sein.
Der Handwerker aber hat in unserer Zeit die geistige Führung
in Gestaltungsfragen eingebüßt. Er ist ausführendes Organ
geworden.
Aus diesen Umständen ergibt sich, daß die Frage der künst-
lerischen Tätigkeit in der Industrie selten geklärt ist. Oft werden
gute Ideen eines Fabrikanten auf dem Wege zur letzten For-
mung verdorben, weil man den Könner für die Gestaltung
nicht zur Hand hatte. Oder, wenn man die richtige Kraft zur
Verfügung hat, dann traut man ihr nicht. Wohl kann ein
ungeschickter Modellbauer, der die gewollte Form nicht zu
erfühlen vermag, viel an einem guten Entwurf entstellen, aber
nichts ist schlimmer, als wenn gar zwölf Direktoren dreinreden
— dann ist eine Mißgeburt so gut wie sicher.
Es ist verwunderlich, daß bei dem täglichen großen Bedarf
an gestaltenden Kräften „fortgewurstelt" wird mit allerlei Be-
helfskräften. Es ist unfaßbar, daß man oft 10 000 RM. Werk-
zeugkosten in eine absolut wertlose Form steckt. Der
„Ingenieurkünstler" oder der „Modellhandwerker", der den
Künstler, den Ingenieur und den Handwerker in sich vereinigt,
wird der Mann der Zukunft sein. Er ist wichtiger als eine
ganze Kompagnie von Kunstgewerblern, die eigenbrötlerische
Kleinkunst basteln.*)
Wir haben bisher den Lichtkegel auf den ausführenden
Ingenieur oder Konstrukteur geworfen. Blenden wir einmal auf
und beleuchten einen Teil der Zusammenhänge: Die Verant-
wortung für die Qualität der Form trägt letzten Endes nicht
der ausführende Konstrukteur, sondern der Fabrikant. Für all
den Schund, der zum großen Teil die Warenhäuser und Läden
füllt, müssen wir die Fabrikanten haftbar machen.
Der Kaufmann pfeift bekanntlich auf Kunst, er will verkaufen.
Er beruft sich auf den meist ungebildeten Reisenden, der angeb-
lich weiß, was verlangt wird. Dieser behauptet einfach, der
Käufer wolle es so oder so, wobei er gar nicht bemerkt, daß
er seinen eigenen Geschmack oder Ungeschmack mit ein-
geschaltet hat. Der Wille des Käufers wird dem Hersteller
eigentlich gar nicht bekannt. Sehr viele Käufer sind indifferent
und kaufen, was ihnen aufgeredet wird. Wenn auch ein
gewisser Prozentsatz von süßem Ungeschmack immer absetzbar
sein wird, so ist es doch nicht nötig, daß nun alles verkitscht
wird, denn es gibt eine sehr große Zahl kritischer Käufer, die
das Gute und Künstlerische suchen, aber nicht finden. Oft
kaufen sie nur in Resignation das Schlechte.
„Der Industrielle, der Fabrikant" — sagt Prof. Hestermann —
„möge sich einmal klar machen, daß sozusagen moralisch ge-
sehen die Rechtfertigung seines Daseins nicht nur darin besteht,
daß er das Volksvermögen mehrt oder soundsovielen Arbeitern
Brot gibt. Das was als tatsächliche Leistung, als Beitrag zum
Ganzen der Welt von seinem Tun bleibt, sind die von ihm —
mittelbar — produzierten Dinge. Sein Gewissen soll sich
schärfen, etwas von dem zu bekommen, was Stolz und Ehre
des Meisters aus den großen Zeiten des Handwerks ausmachte,
wenn er das Ding um seiner selbst willen schuf und es nicht
eher aus der Hand gab, ehe er ihm nicht den höchsten ihm
möglichen Grad von Vollendung gegeben hatte. Damals
handelte es sich um ein Stück, heute um tausend Stück. Der
kleine Mangel, die kleine Unvollkommenheit vertausendfachen
sich und belasten den Urheber, nicht das rechnerische Konto,
sondern das Kulturkonto. Und auch hier werden eines Tages
in irgendeiner Form die Bücher revidiert."
Der Fabrikant dient dem Volke am besten durch gute, form-
vollendete Ware. Er darf heute nicht mehr an diesem Problem
vorübergehen.
Wenn er nun fragt: Wer kann denn meiner Massenware
bessere Formen geben? Wer gestaltet Massenware? Wo ist
der Mann? Dann muß er auch eine richtige Antwort erhalten.
Müßte diese Antwort nicht der Werkbund erteilen?
*) über dieses Thema ist in dem Bändchen: „Die lebendige
Form", Prof. Kersting, Leonardopresse, Berlin-Tempelhof, 100 Ab-
bildungen, RM. 4,80, verschiedenes gesagt.
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W. M. KERSTING, BERLIN
Der Ingenieur kann behaupten, daß er fast alle Geräte
unseres Bedarfes formt. Er gibt tatsächlich den meisten Waren
die äußere Gestalt, vor allem der Massenware; da es fast
nur noch Massenware gibt, greift der Ingenieur oder der Kon-
strukteur wohl immer irgendwie ein.
Im Maschinenbau hat sich eine Formensprache entwickelt,
die jeder Ingenieur benutzt. Die technische Formensprache
ist teilweise in Normen festgelegt. Im übrigen ergibt sich aus
dem Zweck und dem Material meist schon recht viel von der
Form. Daß man bei gleicher Maschinennutzleistung aber schöne
und weniger schöne Maschinen bauen kann, ist bekannt. Es gibt
also im reinen Ingenieurberuf schon etwas wie künstlerische
Gestaltungskraft.
Im Gebiet der Massenware verschiebt sich der Schwerpunkt
vollends auf die Erscheinung der Dinge, auf die mehr
oder weniger vollendete Form. Auch hier ergibt sich aus
Zweck und Material schon sehr viel, aber keineswegs alles.
Wenn wir nun die Massenware betrachten, so sehen wir
neben den guten Formen eine erschreckende Zahl von
schlechten Formen. Der Ingenieur, der sich beim Entwerfen
von Maschinen sicher fühlt, verliert diese Sicherheit sofort,
wenn er etwas fabrizieren soll, das frei gestaltet werden muß.
Er wird dann rührend hilflos und verliert den Blick für Propor-
tionen, er macht Anleihen bei vergangener Kunst und verfällt
auf Mätzchen.
Die guten Formen der Massenware sind manchmal das
Ergebnis langer Entwicklungen. In günstigen Fällen haben viele
wertvolle Kritiker an der Vollendung der Form gearbeitet.
Meist in langen Zeitabständen, nach vielen Irrwegen. Dieser
Weg ist eben der lange Umweg, der im Glücksfalle auch
zum Ziel führt; ein böser Weg, denn Hunderttausende der Fehl-
formen gehen zuvor ins Volk.
Der begabte Gestalter kürzt diesen Weg ab. Die Fehlver-
suche verlassen erst gar nicht das Werk. Er durchläuft den
mühsamen Weg zur guten Form an Hand von provisorischen
Modellen.
Die wenigen guten Formen der Massenware stammen
zumeist von den begabten Gestaltern unter den
Ingenieuren und Technikern — manchmal auch von künstle-
rischen Mitarbeitern, von Architekten, die gelegentlich heran-
gezogen werden —, selten von Handwerkern.
Unter den Ingenieuren gibt es mehr formbegabte Kräfte,
als ausgenutzt werden, — aber hier findet noch keine Auslese
statt, weil der Beruf des „Ingenieurkünstlers" in unserem Sinne
noch nicht entdeckt ist. Es gibt auch keine Schule, die die künst-
lerische und handwerkliche Ausbildung dieses Ingenieurs pflegt.
Auf der anderen Seite finden sich unter den freien Künstlern nur
v/enige, die die Technik der Massenwarenherstellung genügend
beherrschen. Unsere Kunst- und Kunstgewerbeschulen vermögen
das nötige Ingenieurwissen hierzu nicht zu vermitteln. Und
doch muß der künstlerische Berater auch Ingenieur sein.
Der Handwerker aber hat in unserer Zeit die geistige Führung
in Gestaltungsfragen eingebüßt. Er ist ausführendes Organ
geworden.
Aus diesen Umständen ergibt sich, daß die Frage der künst-
lerischen Tätigkeit in der Industrie selten geklärt ist. Oft werden
gute Ideen eines Fabrikanten auf dem Wege zur letzten For-
mung verdorben, weil man den Könner für die Gestaltung
nicht zur Hand hatte. Oder, wenn man die richtige Kraft zur
Verfügung hat, dann traut man ihr nicht. Wohl kann ein
ungeschickter Modellbauer, der die gewollte Form nicht zu
erfühlen vermag, viel an einem guten Entwurf entstellen, aber
nichts ist schlimmer, als wenn gar zwölf Direktoren dreinreden
— dann ist eine Mißgeburt so gut wie sicher.
Es ist verwunderlich, daß bei dem täglichen großen Bedarf
an gestaltenden Kräften „fortgewurstelt" wird mit allerlei Be-
helfskräften. Es ist unfaßbar, daß man oft 10 000 RM. Werk-
zeugkosten in eine absolut wertlose Form steckt. Der
„Ingenieurkünstler" oder der „Modellhandwerker", der den
Künstler, den Ingenieur und den Handwerker in sich vereinigt,
wird der Mann der Zukunft sein. Er ist wichtiger als eine
ganze Kompagnie von Kunstgewerblern, die eigenbrötlerische
Kleinkunst basteln.*)
Wir haben bisher den Lichtkegel auf den ausführenden
Ingenieur oder Konstrukteur geworfen. Blenden wir einmal auf
und beleuchten einen Teil der Zusammenhänge: Die Verant-
wortung für die Qualität der Form trägt letzten Endes nicht
der ausführende Konstrukteur, sondern der Fabrikant. Für all
den Schund, der zum großen Teil die Warenhäuser und Läden
füllt, müssen wir die Fabrikanten haftbar machen.
Der Kaufmann pfeift bekanntlich auf Kunst, er will verkaufen.
Er beruft sich auf den meist ungebildeten Reisenden, der angeb-
lich weiß, was verlangt wird. Dieser behauptet einfach, der
Käufer wolle es so oder so, wobei er gar nicht bemerkt, daß
er seinen eigenen Geschmack oder Ungeschmack mit ein-
geschaltet hat. Der Wille des Käufers wird dem Hersteller
eigentlich gar nicht bekannt. Sehr viele Käufer sind indifferent
und kaufen, was ihnen aufgeredet wird. Wenn auch ein
gewisser Prozentsatz von süßem Ungeschmack immer absetzbar
sein wird, so ist es doch nicht nötig, daß nun alles verkitscht
wird, denn es gibt eine sehr große Zahl kritischer Käufer, die
das Gute und Künstlerische suchen, aber nicht finden. Oft
kaufen sie nur in Resignation das Schlechte.
„Der Industrielle, der Fabrikant" — sagt Prof. Hestermann —
„möge sich einmal klar machen, daß sozusagen moralisch ge-
sehen die Rechtfertigung seines Daseins nicht nur darin besteht,
daß er das Volksvermögen mehrt oder soundsovielen Arbeitern
Brot gibt. Das was als tatsächliche Leistung, als Beitrag zum
Ganzen der Welt von seinem Tun bleibt, sind die von ihm —
mittelbar — produzierten Dinge. Sein Gewissen soll sich
schärfen, etwas von dem zu bekommen, was Stolz und Ehre
des Meisters aus den großen Zeiten des Handwerks ausmachte,
wenn er das Ding um seiner selbst willen schuf und es nicht
eher aus der Hand gab, ehe er ihm nicht den höchsten ihm
möglichen Grad von Vollendung gegeben hatte. Damals
handelte es sich um ein Stück, heute um tausend Stück. Der
kleine Mangel, die kleine Unvollkommenheit vertausendfachen
sich und belasten den Urheber, nicht das rechnerische Konto,
sondern das Kulturkonto. Und auch hier werden eines Tages
in irgendeiner Form die Bücher revidiert."
Der Fabrikant dient dem Volke am besten durch gute, form-
vollendete Ware. Er darf heute nicht mehr an diesem Problem
vorübergehen.
Wenn er nun fragt: Wer kann denn meiner Massenware
bessere Formen geben? Wer gestaltet Massenware? Wo ist
der Mann? Dann muß er auch eine richtige Antwort erhalten.
Müßte diese Antwort nicht der Werkbund erteilen?
*) über dieses Thema ist in dem Bändchen: „Die lebendige
Form", Prof. Kersting, Leonardopresse, Berlin-Tempelhof, 100 Ab-
bildungen, RM. 4,80, verschiedenes gesagt.
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