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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 4.1888-1889

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Pecht, Friedrich: Die erste Münchener Jahres-Ausstellung 1889, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.9419#0391

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Die erste Münchener Iahres-Ausstellnng ^884


zos

sondern das, wofür sie am ehesten einen Käufer zu finden hofft. Sie stellt also nicht die eigenen Ideale dar,
sondern die andrer. Das war immer so und wird wohl auch in alle Zukunft so bleiben. Eben darum aber
ist gerade diese große Durchschnittsmasse weit bezeichnender für den Charakter der Epoche als die genialen
Werke derer, welche uns als echte Propheten wohl die Zukunft verkünden, die unser wartet, aber der Gegen-
wart meistens mit Verachtung den Rücken kehren. Sie verdient dieselbe allerdings vollständig., wenn

wir der eben erwähnten Masse glauben sollen, denn ein nicht ganz kleiner Teil der sie ausmachenden Bilder
scheint nur für lüsternes Kaufpubliknm gemalt, offenbart eine Trivialität der Genußsucht, die in einem geradezu
erschreckenden Maße zuzunehmen scheint, während ihr Grazie, Feinheit des Studiums, Geschmack und Witz in
immer trostloserer Weise abhanden kommen. — Glücklicherweise fehlt es diesen Vertretern grober Genußlust
und Verweichlichung nicht an einem wahrhaft niederschmetternden Gegengewicht, denn es ist fast immer nur
die künstlerische Impotenz, welche bei uns an die rohe Sinnlichkeit appelliert, das echte Talent macht sich
dessen nicht schuldig.

Ich habe in der Einleitung bei Erwähnung jener ersten Ausstellung von 1835, die des Cornelius
„Jüngstes Gericht" brachte, die Frage gestellt, ob wohl die jetzige bei all ihrem unverhältnismäßig größeren
Reichtum, irgend etwas von. nur annähernd gleicher geistiger Wucht, von ähnlich erhabener Anschauung zu
bringen im stände sein werde? Diese Frage möchte ich heute bejahen, soweit das überhaupt möglich ist. In
Karl Marrs „Flagellanten" besitzt die Ausstellung unstreitig ein Kunstwerk, das an erschütternder Kraft
wohl hinter dem „jüngsten Gericht" zurückbleibt, an unmittelbarer, packender Wahrheit es aber übertrifft. Vor
allem aber ist es jedenfalls ebenso charakteristisch für unsre Zeit, als jenes für die damals herrschende Ro-
mantik und ihr schwärmerisches Glaubensbedürfnis.

Zeigt uns die Ausstellung mit bis jetzt unerhörter, ja oft erschreckender Klarheit das Ausleben der
herrschenden Kunst- und Kulturperiode, den raschen Niedergang aller bisherigen Kunstformen, vorab das fast
gänzliche Verschwinden des Einflusses der Antike, ja selbst der Kunst der Renaissance und gibt sie uns für
die Aussicht auf dessen Vernichtung nur die oft widerwärtige, fast immer aber wenigstens unbequeme, weil
jeder Idealisierung entbehrende, harte und grausame Wahrheit, so wird das bei Marr auf eine wenigstens
künstlerisch durchaus versöhnende Spitze getrieben. Ich glaube schwerlich, daß sich der noch ganz jugendliche
Künstler der vollen Konsequenz bewußt war, mit der er uns in seiner ein halbes Jahrtausend zurückliegenden
Szene die nächste Zukunft verkündete und sein Bild zu einem jüngsten Gericht der Gegenwart machte. Hier
hat ihn sicherlich sein Genius ohne alle Absicht zum Propheten werden lassen! Er führt uns auf den Markt-
platz einer jener herrlichen italienischen Städte, die wie Florenz oder Bologna zur Zeit ihrer größten Blüte und
Üppigkeit auf einmal von den Prozessionen wilder Schwärmer durchzogen wurden, in denen das Gefühl der Not-
wendigkeit öffentlicher Buße für das bisherige Lasterleben so übermächtig geworden war, daß sie sich
nicht nur selber geißelten, sondern auch ihre fieberhafte Angst vor der Zukunft der ganzen Bevölkerung mit-
teilten, alt und jung mit sich in die gleiche Zerknirschung hineindrängten.

Das Auftreten und die Ansteckung dieses Fiebers aber schildert uns Marr nun mit einer schlichten
Wahrheit und Unmittelbarkeit, daß man unwillkürlich mitgerissen wird, daß unser Herz pocht und wir das
Schuldbewußtsein, ja all das Bangen Mitempfinden, das jenen vornehmen wie gemeinen Männern und Frauen,
ja Kindern sogar die Geißel in die Hand gab. In der herrlich geschilderten, mit stolzen Palästen vollgefüllten
Stadt zieht sich die Prozession der Flagellanten den Berg herab auf den Platz, der zu beiden Seiten mit
Tausenden von Zuschauern gefüllt ist, denen diese düsteren Büßer bald Sympathie, bald Grauen, jedenfalls
aber ihre wilde Aufregung mitteilen. Unter Voraustritt von Kreuzen und Fahnen, Heiligenbildern und
Priestern lenkt ein Teil der Beter auf eine grandiose Kirche im Vordergrund rechts, etwa wie San Petronio
in Bologna ein, mit seiner mächtigen Freitreppe, aus deren Stufen sie die dicht gedrängte Menge erwartet.
Die Hauptmasse der Flagellanten zieht aber vorbei, offenbar um die ganze Stadt zu durchwandern. Jünglinge,
ja Kinder sind unter ihnen, die Mehrzahl aber besteht aus älteren Männern, von denen wohl viele eigene
schwere Schuld zu büßen haben. Geistliche begleiten den Zug, dessen Büßfertigkeit ihnen unheimlich wird, mit
offenbar sehr verschiedenen Empfindungen, die Glut heißer Mittagssonne brennt auf dem Pflaster und steigert
noch die allgemeine Aufregung, in deren feiner Abstufung je nach den Charakteren, wie in der Mannig-
faltigkeit der Erfindung der Gruppen unser Maler geradezu Erstaunliches leistet. Dabei ist jede Spur
theatralischen Wesens ausgetilgt, diese Menschen spielen nicht etwa Komödie, was bei Italienern doch so nahe
läge, sondern es ist ihnen so blutiger Ernst mit dem Bewußtsein ihrer Sündhaftigkeit und ihrem Bedürfnis
nach Sühne, daß wir ihr Angstgefühl sofort verstehen und teilen. Diese überzeugende Wahrheit zu erreichen
war eben nur einem großen Talent möglich, und auch das nur in einer Periode, die mit jener üppigen
so viele Ähnlichkeit hat, und die offenbar dieselbe Ahnung kommenden schweren Strafgerichts durchzittert.

Darin liegt nun die große Bedeutung des Bildes: daß es dem heutigen, Kunst und Leben gleichmäßig
beherrschenden Sybaritismus sich entschlossen gegenüberstellt, der allgemein herrschend gewordenen Heuchelei und
Schönfärberei die Maske abreißt, indem es uns eine ähnliche Periode und ihren Umschlag ins Gegenteil mit
 
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