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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 14.1898-1899

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Lange, Konrad von: Realismus, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.12049#0117

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Realismus, von Prof. vr. Ronrad Lange.

besonders ihre Aussprache, so verfeinert sind, daß sie sich trotzdem verständlich machen kann. Wer diese
Mittel nicht hat, der bleibe davon, der vermeide es, dem Publikum den Rücken zu drehen.

So steht also der Stil der Darstellung, d. h. der Grad, in dem die Natur abgeändert werden muß,
im engsten Zusammenhang mit der Ausbildung der Technik. Ein absolutes Kriterium, ein Minimal- oder
Maximalmaß der Abänderung giebt es nicht, diese wird vielmehr lediglich durch das Jllusionsbedürfnis der
Zeit und durch das individuelle Können des einzelnen Künstlers bestimmt.

Die normale Entwicklung aller nachahmenden Künste wäre demnach nichts anderes als eine fort-
währende Annäherung an die Natur auf Grund eines immer mehr gesteigerten Jllusionsbedürfnisses und einer
im Zusammenhang damit immer mehr verfeinerten Technik. Diese Entwicklung läßt sich auch im allgemeinen
überall verfolgen, z. B. in der Schauspielkunst, wenn man das antike Theater und die moderne intime Bühne
vergleicht, im Drama, wenn man Aeschylos und Shakespeare und Gerhart Hauptmann nebeneinanderstellt, in
der Plastik, wenn man von Phidias zu Meunier, in der Malerei wenn man von Giotto zu Menzel übergeht.
Der größte Künstler ist zu jeder Zeit derjenige, der für seine Zeitgenossen die höchste Illusion erreicht, und
im Verlause der ganzen Entwicklung sind diejenigen die größten, deren Werke sich auf die Dauer am illusions-
krästigsten bewähren.

Allerdings vollzieht sich die Entwicklung nicht in der reinlichen und einfachen Weise, wie es nach
der Formulierung des ästhetischen Prinzips scheinen könnte. Und das ist auch im Grunde kein Unglück. Denn
wenn sie eine so glatte und einfache wäre, so würde die Kunst in ihrem Streben, sich der Natur anzunähern,
sehr bald in eine Sackgasse geraten, d. h. soweit kommen, daß eine weitere Annäherung mit den gegebenen
technischen Mitteln überhaupt unmöglich wäre. Damit würde aber jede Weiterentwicklung unterbunden, die
Kunst zur Stagnation verurteilt werden.

Eine solche Stagnation wird nun, abgesehen von der Mannigfaltigkeit der Natur, die eigentlich nie-
mals ganz auszuschöpfen ist, verhindert: erstens durch die Vernichtung großer Kulturen im Zusammenhang mit
dem Aufkommen neuer Völkerschaften (Völkerwanderung), zweitens durch die Existenz eines wichtigen psychologi-
schen Gesetzes, nämlich des Gesetzes der Abstumpfung und des Wechsels. Durch die erstere wird die Entwicklung
an einem bestimmten Punkt unterbrochen, um dann wieder ganz von vorn beginnen zu können, nach dem
letzteren Pflegt auf eine Uebertreibung des realistischen Prinzips im Sinne des Naturalismus immer eine Reaktion
im Sinne des Idealismus zu folgen. In einer solchen Periode stehen wir seit einigen Jahren mitten drin.
Richtungen wie der „Neuidealismus", „Japanismus", „Symbolismus", „Ornamentalismus", „Plakatismus"
(sit venia vsrbo) kann man nur als vorübergehende Reaktionen gegen die Uebertreibungen des Naturalismus
verstehen. Nachdem weite Kreise des Publikums und der Künstler thatsächlich durch die Ausschreitungen des
extremen Naturalismus abgestumpft und ermüdet worden sind, erfolgt jetzt ein Umschwung nach der anderen
Seite. Und ebenso wie der Realismus der achtziger Jahre in der einen Richtung zu weit gegangen war,
d. h. die Natur zu wenig verändert hatte, geht jetzt die Reaktion in der anderen Richtung zu weit, indem sie
eine zu große Veränderung verlangt. Die ganze Entwicklung stellt sich also gewissermaßen dar als
ein Oscillieren zwischen zwei Extremen, die beide gleichweit von der richtigen Mitte entfernt
liegen. Und diese richtige Mitte, die selbst wie gesagt noch einen ziemlich großen Spielraum
gewährt, ist das, was wir Realismus nennen.

Schon aus diesem Grunde kann eine gesunde Aesthetik nur auf dem Boden des Realismus erwachsen.
Sie wird vielleicht unpopulär sein, solange der Naturalismus herrscht, und wird totgeschwiegen werden, solange
der Symbolismus seine Triumphe feiert. Aber ihre Zeit wird kommen, wenn einst die Versöhnung der Gegen-
sätze eintreten wird, wenn wir die große Kunst der Zukunft haben werden, nach der sich die besten unseres
Volkes schön so lange sehnen. Dann wird dieser Aesthetik die Aufgabe znfallen, die Kluft, die jetzt zwischen
Künstler und Publikum gähnt, auszufüllen, den Weg für eine wahrhaft gesunde, wahrhaft volkstümliche Kunst
zu bahnen. Sie wird dem Publikum sagen, was unsere Künstler wollen, was an ihren Werken groß und be-
deutend, was nur ein Spiel individueller Laune oder zufälliger Verirrung ist, und sie wird unseren Künstlern
sagen, wie das Volk, d. h. der gebildete ästhetisch fühlende Mittelstand empfindet, was man ihm zumuten kann
und was er sich nicht gefallen zu lassen braucht. Sie wird keine Gesetze diktieren, durch die die Kunst ge-
knebelt, in ihrer freien Entwicklung gehemmt wird, aber sie wird vor offenbaren Ausschreitungen und Verirrungen
warnen, kurz sie wird sich bemühen als ehrlicher Makler zu handeln, mit dem beide Seiten zufrieden sein können.
 
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