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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 14.1898-1899

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Stratz, Carl Heinrich: Der moderne Schönheitsbegriff vom weiblichen Körper
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https://doi.org/10.11588/diglit.12049#0461

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Z62

Der moderne ^chönheitsbegriff vom weiblichen Aörper.

lichkeitsgefühl unter dem Drang der Umstände erleiden
kann. Ein europäisches Mädchen errötet, wenn man sie
in der Nachtjacke überrascht, aber sie zeigt sich dekolletiert
auf jedem Balle. Eine Frau im dunklen Kleide fühlt
sich unter Balltoiletten, ein Herr im Gehrock unter
Fräcken in hohem Maße unbehaglich.

In Batavia, wo alle
Damen ihre bloßen Füße in
kleine goldgestickte Schuhe
stecken, fand man es höchst
unpassend, als eine Dame sich
im Hotel zeigte, die ihre Beine
in blauseidene Strümpfe ge-
hüllt hatte, und gerade durch
die Verhüllung die Aufmerk-
samkeit auf diesen Teil ihres
Körpers lenkte.

Ich halte es für über-
flüssig, die angeführten Bei-
spiele mit noch weiteren zu
vermehren^) und glaube zu
dem Schlüsse berechtigt zu
sein, daß unser Sittlichkeits-
gefühl angeboren ist, unser
Schicklichkeitsgefühl hingegen
ganz und gar abhängig ist
von den in unserer Umgebung
herrschenden Gewohnheiten
und Gebräuchen.

Was wir aber in der
Natur in Europa unbewußt
verurteilen, halten wir in der
Kunst für erlaubt. Deshalb
legen wir, die Natur nicht
kennend, an die Schönheit des
weiblichen Körpers den Maß-
stab an, der uns aus Kunst-
werken geläufig geworden ist.

Dabei geben wir uns jedoch
wiederum keine Rechenschaft
davon, daß auch die Auf-
fassung des Weibes in der
Kunst einer gewissen Mode,
einer Tradition unterliegt, die
mit dem Schönheitsbegriff als
solchem gar nichts zu thun
hat, und daß wir dieselbe nicht
ohne weiteres ins Leben über-
tragen können.

Wir finden die Venus
von Milo schön, so wie sie ^

ist. Wäre sie aber nach der

heutigen Mode gekleidet, so würden wir ihre Figur ab-
scheulich finden, denn unter den Kleidern würde die Taille
der Venus noch beträchtlich an Breite zunehmen.

Wenn wir nun einerseits die Venus von Milo,
andererseits eine feine Taille schön finden, so müssen wir
daraus folgern, daß alle schlanken Frauen entkleidet häßlich
sind, da sie die Vollkommenheit der Venus nicht besitzen.

Dies ist jedoch nicht der Fall, wie die Erfahrung
bestätigt. Der weitere Schluß ist demnach, daß jemand,

der die ganze Venus von Milo auswendig kennt, doch
nicht im stände oder berechtigt ist, irgend welchen Rück-
schluß auf den Körper einer lebenden bekleideten Frau
zu machen.

Aber noch mehr; wir nehmen selbst, ohne es zu
wissen, altgriechische Moden als Maßstab zur Beurteilung

moderner Kunstwerke und auch
des Lebens, wo uns dies nackt
entgegentritt.

Nur zwei Beispiele:

In der ganzen klassischen
Kunst, so weit wir sie kennen,
finden sich nur zwei Bild-
werke eines nackten Mannes
mit einem Schnurrbart, näm-
lich der sterbende Gallier und
der Gallier in der Gruppe
Arria und Paetus. Alle an-
deren Figuren sind mit vollem
Bart oder bartlos dargestellt.
Weder bei den Griechen noch
bei den Römern war es Mode,
einen Schnurrbart zu tragen;
in den genannten Statuen ist
gerade dadurch der Barbar
charakterisiert. Trotzdem bei
uns Tausende von Schnurr-
bärten im täglichen Leben an-
getroffen werden, finden wir
sie, außer bei Porträtstatucn,
kaum in der Kunst. Wenn wir
sie zusammen mit einem un-
bekleideten Körper autreffen,
befremden sie unser Gefühl,
wir sehen nicht den nackten,
sondern den entkleideten Mann,
weil — die altgriechische Mode
den Schnurrbart verurteilte.

Ein weiteres Beispiel ist
die Darstellung des nackten
weiblichen Körpers in der
Kunst. Derselbe wird stets
ohne jegliche Körperbehaarung
nachgebildet. Weil dieselbe
häßlich ist? Nein, weil es
bei den alten Griechen und
Römern, wie noch jetzt bei
allen orientalischen Völkern,
Sitte war, daß die Frauen
die Haare ihres Körpers
,ikani,ch° v-nus. künstlich entfernten. Dies geht

deutlich hervor aus dem
103. Gesang der Bilitis,") wo als Merkwürdigkeit von
den Priesterinnen der Astarte gesagt wird: „Sie ziehen
sich niemals die Haare aus, auf daß das dunkle Dreieck
der Göttin ihren Unterleib zeichne, wie einen Tempel."

Trotzdem die Mode des Epilierens seit Jahrhunderten
bei uns nicht mehr besteht, hat die Kunst sie doch bei-
behalten und damit auf das Schönheitsideal der modernen
Menschen übertragen.

"1 Leim, Bilitis' sämtliche Lieder, 1894. I-ouys, 1.es ckan-
son> de LiIiÜ5, 1897.

^ Siehe Ploß-Bartels, Das Weib. 1897, I, p. 359 ff.
 
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