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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 14.1898-1899

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Stratz, Carl Heinrich: Der moderne Schönheitsbegriff vom weiblichen Körper
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https://doi.org/10.11588/diglit.12049#0462

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von vr. L. 6. Slratz.

Z6Z

Wie sehr nicht nur der einzelne Mensch, sondern
die ganze sogenannte „öffentliche Meinung" durch den
äußeren Schein urteilslos beeinflußt wird, ersieht man
am besten aus einer Vergleichung von Fig. 1 und Fig. 2.

Fig. 1 ist eine Reproduktion der aus ihrem Blech-
gewande befreiten vatikanischen Venus/) Fig. 2 Fal-
guieres bekannte Porträtstudie
der Lleo cle iVIerocke, die als
eine der schönsten jetzt lebenden
Frauen gefeiert wird.

Die erstere entspricht
allen Anforderungen, die wir
an einen normalen weiblichen
Körper stellen können. — Auf
den ersten Blick bemerkt man
bei der letzteren: künstlich
durch Kleidung zusammcnge-
drückten unteren Brustumfang,
fehlerhaften Ansatz der Brust,
fehlerhafte Kniestellung, zu
schweres Sprunggelenk.

Der moderne Schönheits-
begriff setzt sich demnach zu-
sammen aus einer durch täg-
liche Uebung ermöglichten
Kenntnis des Kopfes, der
Hände und der Arme und
bezüglich des übrigen Körpers
aus einem Sammelbegriff, den
Reproduktionen des nackten
Weibes durch die Kunst ent-
nommen.

Das allgemeine Urteil
über Frauenschönheit ist somit
kein sachverständiges, sondern
ein indirektes, das einerseits
durch nicht naturgetreue Vor-
stellung des Körpers, anderer-
seits durch Korsetts, Schuhe
und Kleidung getäuscht, sich
falsche und unnatürliche Ideale
schafft.

Alles bisher Gesagte be-
zieht sich hauptsächlich auf die
Schönheit der Form. Daß in
Beziehung auf die Schönheit
der Farbe es noch viel schwie-
riger ist, ein objektives Urteil
zu haben, weiß jeder, der sich
einigermaßen mit der Farben-
lehre und der Funktion des
menschlichen Auges beschäftigt
hat, niemand weiß es besser, als die Frauen selbst, die
durch richtige Auswahl der sie umgebenden Farben in-
stinktiv ihre Reize zu erhöhen, ihre Fehler zu verbergen
wissen. Noch schwieriger ist es, die Schönheit der Be-
wegungen zu analysieren, deren meiste uns durch die
Kleidung verborgen werden.

Es ist das große Verdienst von Michaelis, daß sie in
diesem Zustande dem Publikum bekannt gemacht wurde. Das
Kensinaionmuseum besitzt einen Gipsabguß nach dem Original.
Vgl. Brunn-Bruckmann, Denkmäler griechischer und römischer
Plastik, und Springers Kunstgeschichte, Bd. I, 4. Ausl., 1895.

Doch wir müssen noch eine weitere Einschränkung
machen. Selbst das wenige, was man täglich vom weib-
lichen Körper sehen kann, wird von den meisten nicht mit
der nötigen Aufmerksamkeit betrachtet, weil ihr Blick nicht
geübt ist. Man vergegenwärtige sich die Gesichtszüge,
die Haare, die Augen, die Hände abwesender Personen,

mit denen man täglich zu-
sammentrifft. Von der grö-
ßeren Mehrzahl derselben ist
man nicht im stände, die
Farbe der Haare und Augen,
die Form von Nase und Mund
im Gedächtnis wiederzufinden,
es sei denn, daß dieselben durch
ganz außergewöhnliche Bildung
einen tieferen Eindruck hinter-
lassen haben.

Die Ohren nun gar, die
doch recht viel zum Gesichts-
ausdruck beitragen, werden
meistens nur äußerst ober-
flächlich betrachtet; von der
Form der Hände berichtet
uns Mantegazza^), daß selbst
Malern unbekannt war, ob
ihr zweiter Finger länger
war als ihr vierter.

Es wird also im allge-
meinen selbst über Kopf, Ge-
sicht und Hand nur ober-
flächlich geurteilt, trotzdem wir
täglich in der Lage sind, diese
Teile in größerer Zahl be-
trachten zu können; auf die
übrigen Teile des Körpers
kann nur ein geübter Be-
obachter aus Gang und Hal-
tung gewisse Rückschlüsse
machen; meist jedoch begnügt
man sich mit einer unbe-
stimmten Auffassung, die aus
der auch meist oberflächlichen
Betrachtung von Kunstwerken
abgeleitet ist.

Um diesem Elemente in
der modernen Auffassung ge-
recht zu werden, sind wir ver-
pflichtet, die Darstellung weib-
licher Schönheit durch die bil-
dende Kunst zu analysieren.

—tZ Gedanken, -

Die einen sind zum Blühen, die anderen zum Früchtetragen
bestimmt.

lNan ist nicht eine Individualität, weil man mit andern
uneins, sondern weil man mit sich selber eins ist.

Berühmtheit besteht darin, daß die schlechten Leistungen
anerkannt werden. ^ ^ ^ ''oßmann"

Physiologie des Weibes. Deutsch von Teuscher, 1894, p.52

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