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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 15.1899/​1900

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Pecht, Friedrich: Die deutsche Kunst an der Wende des Jahrhunderts, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.12046#0560

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tere wie Bismarck und Moltke in durch-
dringendster Weise und unwiderstehlich glaub-
würdig wiederzugeben versteht, so unter-
scheidet sich Defregger gleich darin von
ihm, dass er diese überzeugende Wahrheit
eigentlich nur bei Bauern und zwar nur bei
seinen Tiroler Landsleuten erreicht. Da aber
weiss er sie, besonders bei den Frauen, mit
• einer naiven Liebenswürdigkeit zu vereinen,
die ihm ebenso ganz allein gehört wie Len-
bach die durchdringende Schärfe der Be-
obachtung.

Das aber kann man mit grösster Sicherheit
behaupten, dass solche fein eingehende, so
durchaus individuelle Charakterschilderungen
der Kunst keiner früheren Zeit irgendwie
gelungen sind. Alle, auch die vortrefflich-
sten Maler des Cinquecento von Dürer bis
Raffael, sind allgemeiner, solch scharfe
Individualisierung kennt erst das neunzehnte
Jahrhundert. Es ist daher geradezu absurd,
wenn unfähige Kunstkritiker d. h. solche,
die wohl lesen aber nicht sehen gelernt,
und neidische Maler der kommenden Kunst-
periode diese eigentümlichste Art der Schil-
derung wieder verleiden möchten, bloss weil
die einen sie einmal nicht verstehen und
die anderen sie nicht selber zu erringen

hoffen. Denn in seiner strengen Wiedergabe
der Stammesart steht Defregger ganz allein,
da erreicht ihn selbst Knaus nicht. Das ist
aber ein ungeheurer Vorzug unserer modernen
Kunst, dass sie gelernt hat, ein Seelenleben
und Charaktereigenheiten zu schildern, von
denen die alte noch keine Ahnung hatte.
Selbst ihre Vorgänger, die Florentiner des
Quattrocento, erreichen Defregger noch
nicht in seiner so merkwürdig scharf aus-
geprägten Darstellung der Stammesart.

Wer jemals in Südtirol den Verkehr beider
Geschlechter unter sich beobachtet hat, wird
oft erstaunt und entzückt gewesen sein über
die natürliche Zartheit und Liebenswürdig-
keit desselben. Diese eigentümliche Anmut
giebt aber unser Maler in einer seelenvollen
Weise wieder, wie sie in Verbindung mit
dieser Schlichtheit in der Kunst ganz neu ist
und wohl auch einzig bleiben wird. Dabei
hat er sich in vierzig Jahren kaum geändert,
zeigt vielmehr auch darin jene Eigenart des
Genies, dass es gewissermassen fertig auf die
Welt kommt, ohne sich jemals sehr zu modi-
fizieren.

Einen Menzel, Lenbach, Knaus, Def-
regger kennt man schon in ihren ersten
Arbeiten, während alle Talente zweiten Ranges

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