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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 2.1904

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Sickert, Oswald: Die Westminster-Kathedrale in London
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https://doi.org/10.11588/diglit.3550#0371

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Reformation als den Ausgangspunkt seiner Religion
ansieht, empfindet der Anglikaner darin keinen
Bruch mit der Ueberlieferung, sondern einfach ein
Abstossen gewisser unkatholischer Auswüchse. Er
ist ebenso traditionslüstern wie der römische
Katholik und giebt nicht zu, dass in seinem Zere-
moniell oder in der Reihe seiner Bischöfe je eine
Unterbrechung stattgefunden habe; seiner Ueber-
zeugung nach repräsentiert er die wahre, bleibende,
primitive katholische Kirche. Ihm stellt der Katholik
nun ein Gebäude gegenüber, dessen Stil viel weiter
zurückgreift als irgend ein religiöses Bauwerk in
England. Der Anglikaner mag ruhig in der West-
minster-Abtei beten in dem wohltuenden Gefühl,
dass ein Gottesdienst von den gotischen Gewölben
widerhallt, der keine Unterbrechung erfahren hat
seit ihrem Bestehen. Eine knappe Meile weiter
westlich aber ist ein Gebäude aus dem Erdboden
gewachsen in einem Stil, der schon längst im
Dienste der Kirche gebräuchlich war, ehe man
überhaupt an Gotik dachte. Und dieser Stil „war
nicht auf Italien, England oder eine andere Nation
beschränkt, sondern war, bis zum neunten Jahr-
hundert, über viele Länder verbreitet." Die
schmucklosen Mauerflächen, die starken Pfeiler,
die mächtigen, einfachen Wölbungen, die über-
wältigende Symphonie von zehn Millionen Ziegeln
erzwingen das Gefühl für die Bedeutung desursprüng-
lichen Katholizismus.

Die Westminster-Kathedrale ist die grösste
Kirche Londons nach St. Paul's und der Westminster-
Abtei. Der ganze Komplex bedeckt 54000 Quadrat-
fuss, die innere Länge beträgt 342 Fuss, die Breite
des Mittelschiffs 60 Fuss, durch die Flügel und
Seitenkapellen kommen noch 44 Fuss an jeder Seite
hinzu, die Höhe der Hauptbogen des Mittelschiffes
ist 90 Fuss. Der Eindruck der riesigen inneren
Dimensionen wird dadurch erhöht, dass der Blick
vom einen Ende der 34z Fuss bis zum anderen
durch nichts unterbrochen wird, dass das Haupt-
schiff, der offene Mittelraum, eine ungeheure Breite
hat, und dass die volle Höhe sich dem Blicke ohne
Hindernis bietet.

Dieser kolossale Innenraum, die unermessliche
Leere der endlosen Ziegel-Gewölbe rufen einen
spontan ergreifenden Eindruck hervor und über-
wältigen und rühren zugleich durch ihre Einfach-
heit. Kein Besucher dürfte diesem Zauber wider-
stehen, und die Freude, sich diesem Genüsse hin-
zugeben, ist kaum zu überschätzen. Vielleicht ruft
das Wort „Ziegel" den Begriff von Langweile, von

einer prosaischen Nüchternheit hervor, die nicht
mit geistlicher Würde im Einklang steht. In diesem
Kirchenraum herrscht weder Prosa noch Eintönig-
keit, er ist von einer ergreifenden Schlichtheit
durchweht; wäre er nur ein Viertel so gross, so
könnte das Ziegelwerk wohl langweilig wirken,
aber bei solch riesenhaften Dimensionen der Mauern
verschwindet jede Einförmigkeit, und wir em-
pfinden voll ihre Majestät.

Die absolute Gleichmässigkeit der Farbe in
diesem ungeheuren Raum, — ein sanftes Braun —
wirkt wohlthuend apart und harmonisch. Gewiss
bleibt es die denkbarst einfache Art und Weise, einen
mächtigen Raum durch Ziegelwerk zu umschliessen,
dabei giebt es natürlich keine interessanten Ueber-
raschungen im Bauwerk, keine hinreissenden Ein-
fälle, denn Ziegel auf Ziegel, Reihe auf Reihe
erfüllen geduldig ihre Aufgabe, indem sich Tausende,
nein Millionen auf Millionen häufen, und darin,
glaube ich, liegt das Pathos und die Grösse. Ausser-
dem sind Ziegel ein dankbares Material, denn ihre
Oberfläche ist, wenn auch regelmässig, doch durch
kleine Verschiedenheiten angenehm unterbrochen.
Und da sie bis jetzt noch nicht mit Mörtel ausge-
strichen sind, bleibt ein fingerbreiter Raum zwischen
ihnen, sodass jedes Glied dieser ungeheuren Masse
eine gewisse Individualität behält; jeder Ziegel am
Scheitel der Kurve oben am Bogen kann einzeln
unterschieden werden. Schon aus der Nähe be-
trachtet, gewährt das Ziegelwerk einen hübschen
Anblick; von weitem erscheint es sogar wie ein
zartes, einfaches Mosaik. —

Der Stil und das Material dieses grossen
Kirchen-Innern sind uns neu und ungewohnt, aber
weit davon entfernt, sonderbar zu erscheinen. Man
muss sofort ihre Berechtigung anerkennen und hat
sogar das Gefühl, als ob sie uns eine inzwischen
vergessene Wahrheit wieder enthüllen. Da die
Massen ungeheuer gross sind, würden sie in Stein
unerträglich schwer wirken, aber ihre Ausführung
in Ziegel nimmt ihnen alle Kompaktheit.

Ein Hauptteil des Innern lässt sich nicht recht-
fertigen, nämlich die drei flachen Kuppeln im Dach
des Mittel-Schiffes. Auf den ersten Blick hat man ein
unbehagliches Gefühl und fragt sich, aus welchem
Material sie gemacht sein können und wie es
möglich ist, dass diese umgekehrten Näpfchen, die
keine Spur von Rippen, Wölbung oder Bogen
zeigen, Halt haben können. Die ungelöste Frage
wirkt so peinlich, dass der Beschauer weiter forscht,
um die Lösung dieses quälenden Rätsels zu erfahren,

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