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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 9.1911

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Heft 2
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Herrmann, Curt: Der Kampf um den Stil
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https://doi.org/10.11588/diglit.4706#0113

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begründen weniger durch feste Formeln als durch das trag und die Konzentration aller Nervenanspannung und
Erschliessen der jugendlichen Sinne für das Lebendige aller Arbeit darauf, dem Werk nach Möglichkeit seine
und Gesetzmässige in Natur und Kunst, dem mit dem Unmittelbarkeit zu belassen, als verdanke es sein Dasein
Handwerk nicht beizukommen ist, für die Wirkungen den glücklichen Schöpfermomenten weniger Stunden,
und Gegenwirkungen, für die Probleme des Lichtes, Künstler mit dieser Auffassung des Temperaments

der Farbe und der Linie, für die Geheimnisse des Rhyth- werden kaum zugeben, dass Temperament sich auch
mus und der Harmonie und für vieles Andere. anders, ich möchte sagen stilvoll, äussern kann.

Nur auf diesem Wege wird einem heranwachsenden Ein Temperament, das durch den Charakter be-

Geschlecht der Kampf um die künstlerischen Grund- herrscht und gezügelt wird, ist weniger spontan in seinen
Wahrheiten erleichtert. Ein klareres, von allzu grossen Bethätigungen. Vielerlei Erwägungen über die in Frage
Umwegen befreites Schaffen wäre ihm ermöglicht, und kommenden Gesetze verzögern ein allzu schnelles Zu-
greifen und Erfassen. Der
künstlerische Gedanke
braucht länger zur Reife.
Seltene Phänomene, wie
van Gogh, können an die-
ser Definition nicht viel
ändern.

Aber bei fortschreiten-
der Klärung eines künst-
lerischen Charakters wird
sich das Temperament um
so reiner entfalten und
Wege finden, die allein zur
Lösung des Gesamtpro-
blems führen, das ich unter
dem Begriff Stil verstehe.
«■
Dass wir noch weit ent-
fernt sind vom Ziele, kann
niemand tiefer empfinden
als wir selbst. Aber „in
magnis voluisse sat est".
Spätere Zeiten werden
vielleicht williger unsere
schwere, freudig über-
nommene und viel ge-
schmähte Arbeit dankbar
anerkennen und begrei-
fen, dass ohne diese vor-
hergegangene, dem Laien
schwer verständliche Pio-
nierarbeit ihre eigene,
hoffentlich sehr hochstehende Kunst unmöglich wäre. Der
eingeschlagene Weg ist zweifellos richtig. Vorläufig muss
jeder einzelne Künstler an der Bewältigung von Teil-
problemen arbeitenund nach ihrerSynthese suchen. Dieses
gemeinsame Streben nach einem grossen Ganzen bildet
die Signatur des augenblicklichen Standes unserer fort-

unreife Versuche würden
aus der öffentlichen Dis-
kussionverschwinden oder
eine andere Beurteilung
erfahren.....

Es ist ein Kampf um
den Stil, den wir auszu-
fechten haben, um den
Stil der reinen Malerei,
der gleichzeitig ein Kampf
um die künstlerischen Mit-
tel ist, Stil zu bilden. Die-
sen Kampf wird, neben
einem Teil des jetzigen
älteren Geschlechts, im
wesentlichen die herauf-
kommende Jugend aus-
fechten müssen. Sie wird,
wie zu hoffen, endlich er-
reichen, was wir Älteren
ersehnt und begonnen
haben: den Grund zu
legen zu einem lehr- und
lernbaren Rüstzeug, für
den ihr bevorstehenden
„Kampf umdenStil". Der
weiteren individuellen
Entwicklung, die beim
Künstler niemals ein Ende
hat, bleibt dann immer-
noch ein Spielraum . . so
gross wie die Natur, die
unser aller Lehrerin sein und bleiben muss.

•$•

Künstlerische Gesetze, die an sich etwas Abstraktes
sind, müssen, um zu konkretem Leben zu kommen, kon-
kretes Leben zu werden, durch eine Persönlichkeit,
durch ein Temperament interpretiert werden.

PAUL GAUGUIN, FRAUEN UNTER PALMEN

AUSG. BEI E. ARNOLD, DRESDEN

Temperament ist ein vieldeutiges Wort. Es ist an geschrittensten Kunst. Schmerzlich bleibt nur, dass dies
die Person des Künstlers gebunden und äussert sich als ausserhalb einer kleinen Kunstgemeinde so wenig er-
persönlicher Stil in seinem Werk. kannt, gewürdigt und unterstützt wird. Wie es eine

Unter der Herrschaft des Naturalismus und Im- voraussetzungslose Wissenschaft giebt, deren Pflege
pressionismus verstand (oder versteht) man vorwiegend sich sogar der Staat annimmt und die allein den Fort-
unter Temperament das schnelle frische Ergreifen eines schritt verbürgt, so müsste auch eine voraussetzungslose,
künstlerischen Vorwurfs oder Einfalls, bravurösen Vor- aber zielbewusste Kunst in irgendeiner Form eine wohl-

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