EMPFINDUNG UND ERFINDUNG
IN DER MALEREI
VON
MAX LIEBERMANN
eulich meinte Wöfflin in einem kleinen
Aufsatz über das Zeichnen, dass Jeder,
der einen Kopf gut zeichnen könnte,
auch gut zu schreiben verstände. Ob
das nicht zu viel behauptet ist, will ich
als Maler nicht untersuchen, aber das glaube ich
mit Recht behaupten zu dürfen, dass Einer, der
keinen Strich zeichnen kann, unfähig ist über Ma-
lerei zu schreiben. Was würden die Musiker sagen,
wenn ein Maler, der nicht einmal die „Wacht am
Rhein" oder „Heil Dir im Siegerkranz" auf dem
Klavier nachklimpern kann, sich herausnehmen
würde über Musik zu ästhetisieren!
Das ästhetische Urteil über Malerei ist von
Schriftstellern gemacht. Nie würde ein Maler,
auch wenn er Lessings Geist hätte, das geistreiche
und gerade deshalb so gefährliche Parodoxon vom
Raphael ohne Hände erfunden haben. Oder gar
aus dem Laokoon, der immer noch, und mit gutem
Recht, die ästhetische Bibel der Gebildeten ist, das
Diktum: „der Maler, der nach der Beschreibung
eines Thomson eine schöne Landschaft darstellt,
hat mehr gethan, als der sie grade von der Natur
kopiert". Der Schriftsteller versteht in der Ge-
dankenmalerei die literarische Phantasie, und daher
stellt er sie über die sinnliche Malerei, die er nicht
versteht, und aus Unkenntnis ihrer Wesenheit nicht
verstehen kann.
Malerei ist Nachahmung der Natur, der sie ihre
Stoffe entlehnt, aber sie bleibt ohne die schöpfe-
rische Phantasie geistlose Kopie, und es ist daher
ganz gleichgültig, ob der Maler einen Sonnenunter-
gang aus der Tiefe seines Gemüts oder nach einem
Gedicht des Thomson oder nach der Natur malt.
Mit andern Worten: nicht der Idealist steht — wie
Lessing meint — höher als der Realist, sondern
die Stärke der Phantasie macht dengrößerenKünstler.
Für den Maler liegt die Phansasie allein
innerhalb der sinnlichen Anschauung der Natur:
jedenfalls haben alle grossen Maler von den Agyp-
4J5
IN DER MALEREI
VON
MAX LIEBERMANN
eulich meinte Wöfflin in einem kleinen
Aufsatz über das Zeichnen, dass Jeder,
der einen Kopf gut zeichnen könnte,
auch gut zu schreiben verstände. Ob
das nicht zu viel behauptet ist, will ich
als Maler nicht untersuchen, aber das glaube ich
mit Recht behaupten zu dürfen, dass Einer, der
keinen Strich zeichnen kann, unfähig ist über Ma-
lerei zu schreiben. Was würden die Musiker sagen,
wenn ein Maler, der nicht einmal die „Wacht am
Rhein" oder „Heil Dir im Siegerkranz" auf dem
Klavier nachklimpern kann, sich herausnehmen
würde über Musik zu ästhetisieren!
Das ästhetische Urteil über Malerei ist von
Schriftstellern gemacht. Nie würde ein Maler,
auch wenn er Lessings Geist hätte, das geistreiche
und gerade deshalb so gefährliche Parodoxon vom
Raphael ohne Hände erfunden haben. Oder gar
aus dem Laokoon, der immer noch, und mit gutem
Recht, die ästhetische Bibel der Gebildeten ist, das
Diktum: „der Maler, der nach der Beschreibung
eines Thomson eine schöne Landschaft darstellt,
hat mehr gethan, als der sie grade von der Natur
kopiert". Der Schriftsteller versteht in der Ge-
dankenmalerei die literarische Phantasie, und daher
stellt er sie über die sinnliche Malerei, die er nicht
versteht, und aus Unkenntnis ihrer Wesenheit nicht
verstehen kann.
Malerei ist Nachahmung der Natur, der sie ihre
Stoffe entlehnt, aber sie bleibt ohne die schöpfe-
rische Phantasie geistlose Kopie, und es ist daher
ganz gleichgültig, ob der Maler einen Sonnenunter-
gang aus der Tiefe seines Gemüts oder nach einem
Gedicht des Thomson oder nach der Natur malt.
Mit andern Worten: nicht der Idealist steht — wie
Lessing meint — höher als der Realist, sondern
die Stärke der Phantasie macht dengrößerenKünstler.
Für den Maler liegt die Phansasie allein
innerhalb der sinnlichen Anschauung der Natur:
jedenfalls haben alle grossen Maler von den Agyp-
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