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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 9.1911

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Heft 11
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Chronik
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https://doi.org/10.11588/diglit.4706#0567

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CHRONIK

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er holländische Kritiker Alb. Plasschaert
hat in einem Vortrage über van Gogh,
den er seinen gesammelten Kritiken
eingefügt hat, ein Urteil über den Maler
gefällt, das uns aus zwei Gründen inter-
essant erscheint. Erstens als Symptom,
weil man dem ebenso ungerecht verurteilten wie über-
schätzten Künstler nun ruhiger gegenübertreten will,
und zweitens, weil dieser Versuch von der Heimat van
Goghs ausgeht.

Plasschaert kommt zu folgenden Schlüssen:

„Das Erste und auch das Letzte, was uns in dem
Werke van Goghs trifft,ist die starke Unmittelbarkeit der
Äusserung, ihre Notwendigkeit. Er ist der Gezwungene,
der zwingt, der dämonisch Getriebene. Er ist das Unge-
heuer,das selten gesehene, dessen WesenvollUnruheund
steuerloser Leidenschaft, dessen Ende logisch erscheint.

Wenn das Genie darin besteht, den gewaltsamsten
Eindruck zur Harmonie werden zu lassen, so ist das
van Gogh selten geglückt. Am besten in seinen Briefen
und in einzelnen Zeichnungen. Meistens ist er der
Stürmische geblieben, dessen Werk schreckt. Er ist
selten still geworden.

Deutlich spricht aus seiner Kunst ein humanitärer
Zug. Drei Ursachen kann man dafür erkennen. Sein
eigenes Wesen voll von christlicher Theologie, die
philanthropische Bewegung um ihn her und Millets Ein-
fluss. Van Gogh will den Menschen malen im Schweisse
seines Angesichts, nach dem Sündenfall.

Dieses Tendenziöse, das am stärksten in seiner ersten
Zeit, im Haag ist, bleibt auch in den sonnigsten Werken,
die er in Arles malte, fühlbar. Es hängt gleichsam eine
Wolke über diesen Bildern.

Das biblisch Beeinflusste seines Geistes brachte ihn
zur Synthese, zum Stil, zur Abkehr von der Naturtreue
der Impressionisten."

Plasschaert vergleicht van Gogh mit einem Kometen.
Er hat dessen starken Glanz und das jähe Verschwinden.
Seine Wahrheit hat er nicht vollständig ausgesprochen,
obwohl er Gleichnisse sah. Aber immer war er ein
Lebender und die wirkende Kraft seiner Aufrichtig-
keit und Überzeugtheit ist gross. Er hat manchen ge-
weckt.

Plasschaert schliesst mit demHinweis auf den grossen
Einfluss van Goghs in Frankreich, Deutschland und
Holland.

Wir drucken einige besonders prägnante Sätze des
schönen Vorworts ab, das Hugo von Tschudi gelegent-
lich der Ausstellung der Budapester Sammlung des
Herrn M. von Nemes (siehe Kunst und Künstler, Jahr-
gang 9, S. 217) dem Katalog vorangestellt hat.

,,Die Privatsammlungen alter Gemälde, die im Schat-
ten der grossen Galerien entstanden sind, tragen, in die
bescheideneren Verhältnisse übersetzt, im wesentlichen
deren Charakter. Wie diese sind sie bis vor einem Jahr-
zehnt etwa kunsthistorischen Gepräges, denn der Kunst-
historiker, der im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts
die Galerien beherrscht, sammelt zunächst im Dienst
seiner Wissenschaft. Er strebt eine möglichst vollstän-
dige Vertretung auch der kleineren Meister an. Die
„Lücken" sollen ausgefüllt werden. Natürlich wird die
Qualität nicht vernachlässigt, aber sie steht doch nicht
ausschliesslich in erster Linie.

Und wie die Galerien machen auch die Sammler
an der Schwelle der neueren Kunst Halt. Nicht nur
das, sie stehen gerade ihren lebensvollsten Erscheinungen
ablehnend, vielfach feindlich gegenüber. Das ist sub-
jektiv eine bedenkliche Erscheinung. Denn sie regt den
Zweifel an, ob solche Sammler auch in der alten Kunst
wirklich das Künstlerische empfinden, oder ob sie darin
nur den antiquarischen Reiz oder die Sicherheit als An-
lage —, oder die Möglichkeit als Spekulationswert
schätzen. Objektiv aber ist eine starke Schädigung der
modernen Produktion damit verbunden, der gerade die
kapitalkräftigsten Kunstfreunde verloren gehen.

Denn so paradox es klingen mag, aus der alten
Kunst führen nur schwer gangbare Wege zu der Kunst
unserer Tage. Der umgekehrte Weg ist der natürliche.

Es ist das zweifellose Verdienst des Pleinairismus
und des Impressionismus, mit den neuen und kühnen
Problemen, die sie stellten, der modernen Malerei neben
erbitterten Feinden ebenso leidenschaftliche Freunde
geschaffen zu haben. Auf alle Fälle hat sich das Inter-
esse der Gebildeten in bisher ungewohnter Weise der
künstlerischen Produktion der Gegenwart zugewendet.
Von hier aus eröffneten sich dann plötzlich unerwartete
Perspektiven auf die alte Kunst.

Es ist klar, dass dieses neue Verhältnis, das die mo-
derne Kunst zur alten anbahnte, auch an den Galerien
alter Meister nicht spurlos vorübergehen konnte. Wenn
nicht alles täuscht, kommt unter den veränderten Ein-
flüssen ein neuer Typ des Galerie direktors herauf.
Ein Typ, der sich von der mehr kunsthistorischen Spiel-

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