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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 9.1911

DOI issue:
Heft 8
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Segantini, Giovanni: Ein Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.4706#0414

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EIN BRIEF

VON

GIOVANNI SEGANTINI

GIOVANNI SEGANTINI, SELBSTBILDNIS, PASTELL

Maloja, 22. 8. py.
das leitende Komite der II. Internationalen
Ausstellung in Venedig.
Ich habe die gegenwärtige Ausstellung in Venedig
nicht gesehen, noch beabsichtige ich, das Urteil der Jury
zu beanstanden, der ich auch, es drängt mich, das so-
fort zu erklären, keinerlei Zweifel an der Aufrichtig-
keit und Loyalität dieser Jury-Mitglieder habe, die nach
der Vorschrift vor der Eröffnung der erwähnten Aus-
stellung von dem leitenden Komite ernannt waren,
welches seinerseits zum grössten Teil aus konkurrieren-
den Künstlern besteht. Ich wiederhole, ich will nicht

Anm. d. Red,: Dieser Brief Segantinis ist in seiner
temperamentvollen Offenherzigkeit so wertvoll für die Kennt-
nis der Persönlichkeit des Künstlers, daß wir ihn, trotz der
darin enthaltenen Angriffe, als ein biographisch wichtiges
Dokument zum Abdruck bringen.

im geringsten bezweifeln, dass diese nationale Jury,
sich ebenso gut betragen hat wie sich alle unsere Jurys
betragen haben. Dies vorausgesetzt, komme ich dazu,
den Grund zu diesem meinen Briefe anzugeben, näm-
lich, die Unrechtmässigkeit der Ernennung für die
Jury der II. internationalen Ausstellung in Venedig
darzulegen. Das Reglement sagt deutlich (§ 10: die
Preise werden verteilt von einer internationalen
Künstler-Jury . . . ) Die Mitglieder der Jury waren
fünf: drei echte Italiener, von den beiden Andern,
welche Fremde von Geburt sein sollten, ist Einer ein
echter Vrenezianer, und dies ist der Herr MartinRico,
der Ansichten von Venedig für den Handel herstellt,
mit einer Virtuosität, die bisweilen vollkommene photo-
graphische Treue erreicht, und Dieser war der Präsident
der Jury. Der Einzige nicht italienische Künstler ist
der Belgische Bildhauer C. H. van der Stappen. Der
Bericht erstattende Sekretär ist ein Mann wie Marco
Calderini, derselbe, der Referent für die vergangene
Florentiner Ausstellung war, und der als solcher noch
nicht den Mut gehabt hat, öffentlich über die Hand-
lungen dieser Jury Auskunft zu geben in den fünf
Monaten, seit die Ausstellung geschlossen ist; und
wohlgemerkt, auch da handelte es sich um Geldpreise
und dies Stillschweigen ?nacht natürlich schlechten Ein-
druck. Obwohl nicht Mitbewerber in dieser Aus-
stellung und gerade deswegen wünsche ich von diesem
leitenden Komite der II. Internationalen Ausstellung
in Venedig eine deutliche Erklärung, wieso diese will-
kürliche Art und Weise, gegen die Statuten zu Ver-
stössen, berechtigt ist. Eine öffentliche Erklärung wird
allein den Kredit für die kommenden internationalen
Ausstellungen retten, die vielleicht noch in Italien statt-
finden können. Wenn das nicht geschieht, wie es selbst-
verständlich unsere Pflicht und Schuldigkeit ist, werde ich
in allen Sprachen einen Brief schreiben und drucken
lassen, um ihn an die Patrone dieser Ausstellung zu
schicken, damit ich erfahre, was sie davon denken und
was alle interessierten Aussteller davon halten. So wird
die ganze künstlerische Welt wissen, wie Kunst und
Künstler in diesem Lande behandelt werden, wo Alles,
was geschieht, ohne Charakter, ohne Moral, ohne Ideal.

Segantini

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