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LOUIS GURLITT, JUGENDZEICHNUNG. FAMILIENBILD
ser der kleinen Mühlgasse wohnte unter einem Dache
mit einer Schneiderwarte der Golddrahtzieher Johann
August Wilhelm Gurlitt mit seiner Ehefrau Christine
Helene geb. Eberstein, meine vortrefflichen, hoch-
achtbaren, ja bewunderungswürdigen Grosseltern,
und zogen darin in Gottesfurcht und schier unbe-
schreiblicher Entsagung und Hingabe ihre Kinder auf.
Und wie viele Kinder! Aus erster Ehe hatte Gross-
vater fünf, von denen er zwei in die zweite Ehe
brachte, der dann noch zwölf Kinder entsprossen
sind, von denen sieben ein höheres Alter erreichten.
Dabei hatte die Kriegsnot den allgemeinen Wohl-
stand in Hamburg-Altona und das angelernte Kunst-
gewerbe des Mannes so schwer geschädigt, dass er es
nur noch wenige Jahre betreiben konnte. Wer wollte
und konnte in der Armut der napoleonischen Zeit in
Deutschland noch sjoldsjestickte Westen und Röcke
tragen? So musste er es dann als Fischhändler, Ge-
würzkrämer, Fabrikant von Kräuteressenzen ver-
suchen. Aber bei all dieser Not blühte in seinem
Hause ein echter, froher Künsrlersinn und es sammel-
ten sich an den niedrigen Wänden seiner Zimmer
Kunstschätze, die ich hier ohne Scheu der vornehmen
Welt unserer so völlig veränderten Zeit vorführe.
Was Kunst hiess, war in Grossvaters Hause herz-
lich willkommen. Nun lebte in Hamburg, also nicht
allzu fern, ein Zunftgenosse, dem es wirtschaftlich
besser ging, der auch nur drei Söhne zu ernähren
hatte, der Goldplätterer und Goldschmied Gensler. Sein
Haus war lange eine Sehenswürdigkeit: es war das älteste
der ganzen Gegend, im Jahre 1721 abseits vom damaligen
Stadtverkehr als freundliches Gartenhaus am „Dragonerstall"
erbaut. Bis zum Jahre 1864 hat es seinen ursprünglichen Cha-
rakter treu bewahrt, mit Obstspalier, schattigem Lauben-
gang, zopfigem Gartenpavillon und Beeten voll altmodischer,
üppig wuchernder Blumengebüsche. In dieses Haus trug
Grossvater seine Golddrahtarbeiten, die er im Auftrage
Gensler lieferte. Dorthin nahm er auch gern seinen ältesten
Sohn zweiter Ehe, den kleinen Louis mit, der von den frühe-
sten Lebensjahren an Maler werden wollte, und nichts
anderes als Maler. Da sah der Knabe den ältesten der Gens-
lerschen Söhne, Günther (geb. 1 803) bei der Arbeit und durfte
gewiss auch schon jene schönen niederländischen Radierun-
gen betrachten, die der kunstverständige und bildungs-
hungrige Günther seit seinen Knabenjahren zu sammeln be-
gonnen hatte. Da sah er auch, wie Günther, der schon
mit 19 Jahren der Schule Gerdt Hardorffs in Hamburg ent-
wachsen war, selbständig Zeichenunterricht erteilte. Und
neben Günther wuchs der Jakob heran, (geb. 1808), nur
etwa vier Jahre älter als der kleine Louis, und schliesslich
Martin (geb. 1811), ihm fast gleichalterig — und alle drei
dem Zeichnen und dem Kunstleben mit ganzer Seele er-
geben. Das war Ol für sein Seelenlämpchen! Er war zwölf
Jahre alt, da kam einmal der einundzwanzigjährigeGüntherzu
seinenElrern undbrachte seinenSchüler, den sechzehnjährigen
Jakob mit, die Grosseltern mussten sich still hinsetzen und
,>,miäl
W
LOUIS GURLITT, DIE BRÜDER DES KÜNSTLERS. EIN JUGENDWERK
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LOUIS GURLITT, JUGENDZEICHNUNG. FAMILIENBILD
ser der kleinen Mühlgasse wohnte unter einem Dache
mit einer Schneiderwarte der Golddrahtzieher Johann
August Wilhelm Gurlitt mit seiner Ehefrau Christine
Helene geb. Eberstein, meine vortrefflichen, hoch-
achtbaren, ja bewunderungswürdigen Grosseltern,
und zogen darin in Gottesfurcht und schier unbe-
schreiblicher Entsagung und Hingabe ihre Kinder auf.
Und wie viele Kinder! Aus erster Ehe hatte Gross-
vater fünf, von denen er zwei in die zweite Ehe
brachte, der dann noch zwölf Kinder entsprossen
sind, von denen sieben ein höheres Alter erreichten.
Dabei hatte die Kriegsnot den allgemeinen Wohl-
stand in Hamburg-Altona und das angelernte Kunst-
gewerbe des Mannes so schwer geschädigt, dass er es
nur noch wenige Jahre betreiben konnte. Wer wollte
und konnte in der Armut der napoleonischen Zeit in
Deutschland noch sjoldsjestickte Westen und Röcke
tragen? So musste er es dann als Fischhändler, Ge-
würzkrämer, Fabrikant von Kräuteressenzen ver-
suchen. Aber bei all dieser Not blühte in seinem
Hause ein echter, froher Künsrlersinn und es sammel-
ten sich an den niedrigen Wänden seiner Zimmer
Kunstschätze, die ich hier ohne Scheu der vornehmen
Welt unserer so völlig veränderten Zeit vorführe.
Was Kunst hiess, war in Grossvaters Hause herz-
lich willkommen. Nun lebte in Hamburg, also nicht
allzu fern, ein Zunftgenosse, dem es wirtschaftlich
besser ging, der auch nur drei Söhne zu ernähren
hatte, der Goldplätterer und Goldschmied Gensler. Sein
Haus war lange eine Sehenswürdigkeit: es war das älteste
der ganzen Gegend, im Jahre 1721 abseits vom damaligen
Stadtverkehr als freundliches Gartenhaus am „Dragonerstall"
erbaut. Bis zum Jahre 1864 hat es seinen ursprünglichen Cha-
rakter treu bewahrt, mit Obstspalier, schattigem Lauben-
gang, zopfigem Gartenpavillon und Beeten voll altmodischer,
üppig wuchernder Blumengebüsche. In dieses Haus trug
Grossvater seine Golddrahtarbeiten, die er im Auftrage
Gensler lieferte. Dorthin nahm er auch gern seinen ältesten
Sohn zweiter Ehe, den kleinen Louis mit, der von den frühe-
sten Lebensjahren an Maler werden wollte, und nichts
anderes als Maler. Da sah der Knabe den ältesten der Gens-
lerschen Söhne, Günther (geb. 1 803) bei der Arbeit und durfte
gewiss auch schon jene schönen niederländischen Radierun-
gen betrachten, die der kunstverständige und bildungs-
hungrige Günther seit seinen Knabenjahren zu sammeln be-
gonnen hatte. Da sah er auch, wie Günther, der schon
mit 19 Jahren der Schule Gerdt Hardorffs in Hamburg ent-
wachsen war, selbständig Zeichenunterricht erteilte. Und
neben Günther wuchs der Jakob heran, (geb. 1808), nur
etwa vier Jahre älter als der kleine Louis, und schliesslich
Martin (geb. 1811), ihm fast gleichalterig — und alle drei
dem Zeichnen und dem Kunstleben mit ganzer Seele er-
geben. Das war Ol für sein Seelenlämpchen! Er war zwölf
Jahre alt, da kam einmal der einundzwanzigjährigeGüntherzu
seinenElrern undbrachte seinenSchüler, den sechzehnjährigen
Jakob mit, die Grosseltern mussten sich still hinsetzen und
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LOUIS GURLITT, DIE BRÜDER DES KÜNSTLERS. EIN JUGENDWERK
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