§5
Nekrologe
86
andere war, wovon noch die deutlichsten Spuren auf
dem Blatte zu sehen sind: beide Arme waren bereit,
das Kind von der Mutter entgegenzunehmen. Die
spätere Stellung der Hand, der verlängerte Arm der
zu Füßen Jesu gelagerten kranken Frau, sowie die
Strohdecke unter derselben — all das sind neue
Arbeiten — hatten nur den Zweck, zu verhindern,
daß das Bild in zwei Hälften zerfalle. Heiter wirkt
es, daß Rembrandt das sinnbildlich dem reichen Jüng-
ling gegenüber genannte Kamel auch noch mit dar-
stellt und es mit handgreiflicher Absicht unter den
hohen Torbogen bringt, um die Ungeheuerlichkeit des
Ausspruches »Es ist leichter, daß ein Kamel durch
ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich
Gottes komme« vor Augen zu führen. — Was den
Ort der Handlung betrifft, so ist es sicher kein Ge-
wölbe oder eine Höhle, meiner Meinung nach spielt
der Vorgang im Freien, vor den Mauern einer Stadt,
nur wurden der Hintergrund sowie zahlreiche Personen
Opfer des sie niedermähenden Stichels, der eine ruhigere
Wirkung erzielen wollte.
Die Deutung der Radierung als Illustration des
Ev. Matthäi 19. Kapitel war jetzt schon zur Selbst-
verständlichkeit geworden, um so bedauerlicher wirkt
es, wenn ohne Angabe überzeugender Gründe eine
neue Trübung der klaren Tatsache versucht wird. Ich
möchte nur noch feststellen, daß niemand den feisten
Mann im Vordergrunde links für den reichen Jüng-
ling gehalten hat1).
Aus dem Katalog wäre noch zu bemerken, daß eine
Reproduktion der »Danae« (in St. Petersburg) den Titel
erhielt: »Hagar erwartet Abraham«. Unterstützt wird dies
durch den gefesselten, greinenden Amor, wiewohl Ha-
gar selbst gerade keine Traurigkeit an den Tag legt;
der Schlüsselbund am Gürtel der Alten kennzeichnet die
fürsorgliche Hausfrau Sarah. Da der Stoff »Hagar«
in Rembrandts Werken einen breiten Raum einnimmt,
ist es wohl nicht nötig, den Titel des Bildes in den
entlegensten Bibelstellen zu suchen; daß die Galerie-
verwaltung an der unmöglichen Bezeichnung »Danae«
festhält, erklärt sich in dem Bestreben, das Bild bis
in die Werkstatt Rembrandts hinein zu beglaubigen.
Das Petersburger Gemälde und die Blendung Simsons
in Frankfurt weisen die engste Verwandtschaft auf, die
sogar bis zur Übereinstimmung der Geräte geht.
Zur Radierung B. 202: »Die Frau mit dem Pfeil«
habe ich folgendes zu bemerken: die Bezeichnung ist
hrig, denn es ist kein Pfeil, sondern ein Spalt im
Bettvorhang; die Haltung und Bewegung der Frau
soll wohl ein Erschrecken ausdrücken (Tarquinius und
1) Es sei der Redaktion verstattet, hier eine Anmer-
kung zu machen. Sollte Rembrandt wirklich, als er seine
biblischen Kunstwerke schuf, sich die Heilige Schrift vor-
genommen haben, um den oder jenen Vers wortgetreu
zu illustrieren? Ist nicht vielmehr anzunehmen, daß ein
so bibelfester und so souveräner Meister, indem er bib-
lische Gedanken und Erzählungen malerisch veranschau-
lichte, auch den Stoff, der ihm die erste Anregung gab,
gestaltete, vereinigte, nach eigenem Sinne ordnete? Haben
also vielleicht nicht deshalb alle Erklärer gleichermaßen
Recht? D. Red.
Lukretia?). Bei dem Blatte B. 107, »St. Franziskus«
genannt, ist der zweite heilige Einsiedler (St. Antonius),
der rechts unter einem aus Balken und Stroh not-
dürftig hergestellten Obdach im Buche liest, meines
Wissens noch nicht beobachtet worden; man wird
nun das Blatt eher als St. Paulus — dies ist der
uralte Kniende — und St. Antonius anzusprechen haben.
RUDOLF SCHREY.
NEKROLOGE
Der ehemalige Direktor der Nationalgalerie, Geheim-
rat Professor Dr. Max Jordan, ist am 12. November im
Alter von 79 Jahren in Berlin gestorben. Er war in
Dresden geboren, hatte sich früh der Kunstgeschichte zu-
gewandt und war 1870 als Direktor an die Spitze des
Leipziger Museums gestellt worden. Die Ubersetzung
von Crowe und Cavalcaselles Geschichte der italienischen
Malerei aus den Jahren 1869—76 war eine seiner ersten
Arbeiten und darf auch heute noch als eine besonders
wertvolle Leistung zur Erkenntnis der italienischen Kunst-
geschichte genannt werden. Es folgte dann ein zweibän-
diges Werk über »Tizians Leben«. Nach Vollendung der
zuerst von Friedrich Wilhelm IV. geplanten Nationalgalerie
wurdejordandannimjahre 1876 zum DirektordiesesMuseums
ernannt. Seine Tätigkeit um die Entwickelung der National-
galerie ist zweifellos von großem Nutzen gewesen, so sehr
man auch beklagen kann, daß Jordan beim Ankauf von
Gemälden sich oft mehr durch Empfehlungen und persön-
liche Empfindungen hat bestimmen lassen als durch strenge
Kritik und rein künstlerische Gesichtspunkte. So ist es denn
gekommen, daß diese Sammlung gerade in den Jahren,
wo sie unter der Leitung Jordans gestanden hat, leider
viel zu sehr mit solchen Gemälden angefüllt worden ist,
die man heute längst als einen unnötigen Ballast erkannt
hat. Eine wertvolle Ausnahme machen dagegen die zahl-
reichen Arbeiten Adolph Menzels, die Jordan für die Natio-
nalgalerie erwarb, wodurch er den Grundstock zu jener
Sammlung gelegt hat, die heute den Hauptschatz des
Museums ausmacht. Die Kunst Menzels stand ihm über-
haupt besonders nahe. Seiner Feder entstammt bekannt-
lich der Text zu dem bei Bruckmann erschienenen Menzel-
werke. Im Jahre 1895 ist Jordan, der inzwischen vortra-
gender Rat im Kultusministerium geworden war, von der
Leitung der Nationalgalerie zurückgetreten. In dieser Zeit-
schrift hat er in früheren Jahren oftmals das Wort er-
griffen. Sein letztes Werk über den Historienmaler Fried-
rich Geselschap soll in den nächsten Tagen erscheinen.
Braunschweig. Der Erbauer des Braunschweiger
Justizpalastes Friedrich Lilly ist, 72 Jahre alt, gestorben.
Sein Name ist auch mit dem Wiederaufbau des im Jahre
1865 abgebrannten Residenzschlosses und dem Umbau
des Hoftheaters verknüpft.
Lüttich. Ein guter Künstler, der der letzten Genera-
tion angehörte, starb in Brüssel in der Person von
L6on Philippet. Nachdem er 1866 die Lütticher Aka-
demie verlassen, setzte er in Paris bei Bouguerau
seine Studien fort. Das Arichesstipendium führte ihn
nach Rom, wo er erstmalig fünf Jahre verblieb. Er
kehrte nach Belgien zurück, um sich den Rompreis zu
holen, was ihm auch gelang. Daraufhin verweilte er
zwanzig Jahre in der ewigen Stadt. Unter dem Himmel
Italiens schuf er auch seine besten Bilder, so der »Er-
mordete« (Museum von Brüssel). Philippet begründete in
Rom die belgische Akademie, deren Leiter er noch durch
sieben Jahre blieb. Sein Schaffen war ungleich, sein
Genre zu vielseitig, er malte eben alles, selbst Panoramen.
Man will ihm in Lüttich ein Denkmal setzen, geziert von
Nekrologe
86
andere war, wovon noch die deutlichsten Spuren auf
dem Blatte zu sehen sind: beide Arme waren bereit,
das Kind von der Mutter entgegenzunehmen. Die
spätere Stellung der Hand, der verlängerte Arm der
zu Füßen Jesu gelagerten kranken Frau, sowie die
Strohdecke unter derselben — all das sind neue
Arbeiten — hatten nur den Zweck, zu verhindern,
daß das Bild in zwei Hälften zerfalle. Heiter wirkt
es, daß Rembrandt das sinnbildlich dem reichen Jüng-
ling gegenüber genannte Kamel auch noch mit dar-
stellt und es mit handgreiflicher Absicht unter den
hohen Torbogen bringt, um die Ungeheuerlichkeit des
Ausspruches »Es ist leichter, daß ein Kamel durch
ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich
Gottes komme« vor Augen zu führen. — Was den
Ort der Handlung betrifft, so ist es sicher kein Ge-
wölbe oder eine Höhle, meiner Meinung nach spielt
der Vorgang im Freien, vor den Mauern einer Stadt,
nur wurden der Hintergrund sowie zahlreiche Personen
Opfer des sie niedermähenden Stichels, der eine ruhigere
Wirkung erzielen wollte.
Die Deutung der Radierung als Illustration des
Ev. Matthäi 19. Kapitel war jetzt schon zur Selbst-
verständlichkeit geworden, um so bedauerlicher wirkt
es, wenn ohne Angabe überzeugender Gründe eine
neue Trübung der klaren Tatsache versucht wird. Ich
möchte nur noch feststellen, daß niemand den feisten
Mann im Vordergrunde links für den reichen Jüng-
ling gehalten hat1).
Aus dem Katalog wäre noch zu bemerken, daß eine
Reproduktion der »Danae« (in St. Petersburg) den Titel
erhielt: »Hagar erwartet Abraham«. Unterstützt wird dies
durch den gefesselten, greinenden Amor, wiewohl Ha-
gar selbst gerade keine Traurigkeit an den Tag legt;
der Schlüsselbund am Gürtel der Alten kennzeichnet die
fürsorgliche Hausfrau Sarah. Da der Stoff »Hagar«
in Rembrandts Werken einen breiten Raum einnimmt,
ist es wohl nicht nötig, den Titel des Bildes in den
entlegensten Bibelstellen zu suchen; daß die Galerie-
verwaltung an der unmöglichen Bezeichnung »Danae«
festhält, erklärt sich in dem Bestreben, das Bild bis
in die Werkstatt Rembrandts hinein zu beglaubigen.
Das Petersburger Gemälde und die Blendung Simsons
in Frankfurt weisen die engste Verwandtschaft auf, die
sogar bis zur Übereinstimmung der Geräte geht.
Zur Radierung B. 202: »Die Frau mit dem Pfeil«
habe ich folgendes zu bemerken: die Bezeichnung ist
hrig, denn es ist kein Pfeil, sondern ein Spalt im
Bettvorhang; die Haltung und Bewegung der Frau
soll wohl ein Erschrecken ausdrücken (Tarquinius und
1) Es sei der Redaktion verstattet, hier eine Anmer-
kung zu machen. Sollte Rembrandt wirklich, als er seine
biblischen Kunstwerke schuf, sich die Heilige Schrift vor-
genommen haben, um den oder jenen Vers wortgetreu
zu illustrieren? Ist nicht vielmehr anzunehmen, daß ein
so bibelfester und so souveräner Meister, indem er bib-
lische Gedanken und Erzählungen malerisch veranschau-
lichte, auch den Stoff, der ihm die erste Anregung gab,
gestaltete, vereinigte, nach eigenem Sinne ordnete? Haben
also vielleicht nicht deshalb alle Erklärer gleichermaßen
Recht? D. Red.
Lukretia?). Bei dem Blatte B. 107, »St. Franziskus«
genannt, ist der zweite heilige Einsiedler (St. Antonius),
der rechts unter einem aus Balken und Stroh not-
dürftig hergestellten Obdach im Buche liest, meines
Wissens noch nicht beobachtet worden; man wird
nun das Blatt eher als St. Paulus — dies ist der
uralte Kniende — und St. Antonius anzusprechen haben.
RUDOLF SCHREY.
NEKROLOGE
Der ehemalige Direktor der Nationalgalerie, Geheim-
rat Professor Dr. Max Jordan, ist am 12. November im
Alter von 79 Jahren in Berlin gestorben. Er war in
Dresden geboren, hatte sich früh der Kunstgeschichte zu-
gewandt und war 1870 als Direktor an die Spitze des
Leipziger Museums gestellt worden. Die Ubersetzung
von Crowe und Cavalcaselles Geschichte der italienischen
Malerei aus den Jahren 1869—76 war eine seiner ersten
Arbeiten und darf auch heute noch als eine besonders
wertvolle Leistung zur Erkenntnis der italienischen Kunst-
geschichte genannt werden. Es folgte dann ein zweibän-
diges Werk über »Tizians Leben«. Nach Vollendung der
zuerst von Friedrich Wilhelm IV. geplanten Nationalgalerie
wurdejordandannimjahre 1876 zum DirektordiesesMuseums
ernannt. Seine Tätigkeit um die Entwickelung der National-
galerie ist zweifellos von großem Nutzen gewesen, so sehr
man auch beklagen kann, daß Jordan beim Ankauf von
Gemälden sich oft mehr durch Empfehlungen und persön-
liche Empfindungen hat bestimmen lassen als durch strenge
Kritik und rein künstlerische Gesichtspunkte. So ist es denn
gekommen, daß diese Sammlung gerade in den Jahren,
wo sie unter der Leitung Jordans gestanden hat, leider
viel zu sehr mit solchen Gemälden angefüllt worden ist,
die man heute längst als einen unnötigen Ballast erkannt
hat. Eine wertvolle Ausnahme machen dagegen die zahl-
reichen Arbeiten Adolph Menzels, die Jordan für die Natio-
nalgalerie erwarb, wodurch er den Grundstock zu jener
Sammlung gelegt hat, die heute den Hauptschatz des
Museums ausmacht. Die Kunst Menzels stand ihm über-
haupt besonders nahe. Seiner Feder entstammt bekannt-
lich der Text zu dem bei Bruckmann erschienenen Menzel-
werke. Im Jahre 1895 ist Jordan, der inzwischen vortra-
gender Rat im Kultusministerium geworden war, von der
Leitung der Nationalgalerie zurückgetreten. In dieser Zeit-
schrift hat er in früheren Jahren oftmals das Wort er-
griffen. Sein letztes Werk über den Historienmaler Fried-
rich Geselschap soll in den nächsten Tagen erscheinen.
Braunschweig. Der Erbauer des Braunschweiger
Justizpalastes Friedrich Lilly ist, 72 Jahre alt, gestorben.
Sein Name ist auch mit dem Wiederaufbau des im Jahre
1865 abgebrannten Residenzschlosses und dem Umbau
des Hoftheaters verknüpft.
Lüttich. Ein guter Künstler, der der letzten Genera-
tion angehörte, starb in Brüssel in der Person von
L6on Philippet. Nachdem er 1866 die Lütticher Aka-
demie verlassen, setzte er in Paris bei Bouguerau
seine Studien fort. Das Arichesstipendium führte ihn
nach Rom, wo er erstmalig fünf Jahre verblieb. Er
kehrte nach Belgien zurück, um sich den Rompreis zu
holen, was ihm auch gelang. Daraufhin verweilte er
zwanzig Jahre in der ewigen Stadt. Unter dem Himmel
Italiens schuf er auch seine besten Bilder, so der »Er-
mordete« (Museum von Brüssel). Philippet begründete in
Rom die belgische Akademie, deren Leiter er noch durch
sieben Jahre blieb. Sein Schaffen war ungleich, sein
Genre zu vielseitig, er malte eben alles, selbst Panoramen.
Man will ihm in Lüttich ein Denkmal setzen, geziert von