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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 4./​5.1922/​23

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1. Oktoberheft
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Widmer, Johannes: Die XV. nationale Kunstausstellung in der Schweiz
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https://doi.org/10.11588/diglit.20303#0070

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unmittelbar Zündendes oder Liebliches. Sein Urtalent
ist eine Naturgewalt. In hohem Maße hat er sich gegen
umherschwirrende Stile und Weisheiten gewehrt, als
er das „Entzücken“ darstellte und einen frischen Zug
feiner, brauner Mädchen und Jiinglinge malte, die ein
Frühlingsfest begehen. Die paar Reminiszenzen an
Ägypten usw. tun niclits zur Sache, die Empfindung ist
die Amiet’s und der befreiten Jugend unserer Zeit. Von
einer Anlehnung an die auch von Amiet leidenschaftlich
verherrlichten Franzosen ist keine Spur mehr da, und
doch verleugnet er sie nicht. Seiner Lebtag werden
ihm die Erinnerungen an van Gogh und Gauguin nach-
gehn und wohltun. So stcllen auch wir uns zu dem
Problem. Giovanni Giacometti hält sich
enger an seine unmittelbaren malerischen Freuden und
seelischen Erlebnisse. Da diese aus der ihn umgeben-
den Natur und Menschenart, dem sonnigen Bergtal des
Bergell und den Älplern darin, quellen, so wandelt er
auf sicherm Pfade. Ein gesclnnackvoller und leut-
seliger Geist bewahrt ihn vor Entgleisungen ins Proble-
matische der Formen und der Themen. Seine Gemälde
leuchten und erquicken. Es ist merkwürdig, was dieser
Jugendgenosse Amiet’s aus demselben malerischen
Erbe gemacht hat, wie er einheitlich wirkt und seine
schlichte Sache schlagend vorträgt. Es gibt nocli einige
solcher schweizerischen Maler, die mit der feinsten
europäischen Kunst verbunden bleiben, sich aber
zwischen ihr, ihrem eigenen Temperament und der Ge-
gebenheit von Land und Volk eine Mitte geschaffen
haben. So Sturzenegger, so Couvet, Geiger,
M e i s t e r , S u r b e k. Sie bilden den Übergang
zwischen Amiet und Giacometti und den neueren Ex-
pressionisten, meist noch jüngeren Malern, von denen
die einzelnen stark auseinandergehn, die aber alle-
samt etwas Altertümliches oder C.ewaltsames haben.
Da sind Pellegrini, Stoecklin, Stiefel,
Huber, Miiller, Berger, Zeller, Rüegg.
Eine bunte aber höchst ansehnliche Gesellschaft. Sämt-
liche wesentlichen Variationen, unter welchen heutzu-
tage wieder Charakterkunst entsteht, sind in diesen
Namen verkörpert. P e 11 e g r i n i verbindet italie-
nisch-freskale und hodlerische Art, beides gegenwärtig
auf den kompositionell engsten Raum und die stärkste,
aber ja nicht laute oder schillernde, sondern ernste,
dichte, fast gedrückte Farbigkeit einstellend. Es ist
wohl auch etwas französisches dabei. S t o e c k 1 i n
ist schon enger mit einer bestimmten Vergangenheit
verwachsen, und zwar in den Tafelbildern mit Meistern
wie Witz und in den Wandgemälden mit den spät-
gothischen Freskanten und lllustratoren. Das klingt
nun erschrecklich gelehrt für einen Maler. Aber erstens
hat der junge Künstler im Basler Museum Witz immer
vor Augen gehabt, und dann hat er sicli gerne in nord-
italienischen Landen umgetan, so im schweizerischen
Kanton Tessin, wo es immer noch von Denkmalen
jener mittelalterlichen Darstellungsweise wimmelt,
deren Atcm das fromrne Staunen über die wunderbare
Einfalt der Erscheinung und des Lebens Christi war.
Aus diesen Vorbedingungen erwuchs der Zyklus, mit

dem Stoecklin ein Sälchen ausgeschmückt hat: Christus
und Judas. Er erregt in Genf, wo man den Zusammen-
hang mit der religiösen Großgraphik wie in Frankreich
verloren hat, Mißfallen. Germanischen Gemütern ist
die Typisierung der Gestalten, der Verzicht auf die
illusionistische Aufmachung, die Schlichtheit und Über-
sichtlichkeit des ganzen Vortrags ein Hochgenuß. Unter
allen Modernen, die Ähnliches versuchen, steht Stoeck-
lin durch seine außerordentliche Rhythmisierungsgabe
im vordersten Rang. Ein auserwählter Psychologe und
Vergegenwärtiger der Legende! Baumberger,
Stiefel, Huber stehen Stoecklin nahe, ohne in-
dessen denselben hohen Grad stilistischen und psycho-
logischen Gegenwartswertes imnitten der mittelalter-
lichen Sphäre zu erreichen. Am weitesten bringt es
Stiefel, der am natiirlichsten vorgeht; Baum-
b e r g e r ist im Nacherschaffen spätgothischer Kerle,
Hcnker, Soldaten u. dgl. ausgezeichnet, ermangelt aber
des nötigen Feingefühls, um abzuwägen, welche Wun-
der wir heute ertragen. Ohne dieses Feingefühl im
heutigen Künstler hat das Mittelalter als Vorbild keinen
Sinn. H u b e r versteht diesen Tatbestand wie Stoeck-
lin, drückt aber Verhältnisse zwischen ihm selbst und
Frauen aus, die ans neue Testament erinnern, nur leider
nicht klar genug sind. Dieser innern Unklarheit ent-
spricht das seltsame Bemühen, gothisierende Zeichnung
mit der Farbgebung eines Renoir zu verschmelzen.
Dauerndes also mit Flüchtigem, ob auch noch so Köst-
lichem, zu schmücken. Nichtdestoweniger ist Huber
heute wieder verständlicher als die letzten Jahre hin-
durch. Ganz sui generis ist R ü e g g , der sich in der
Welt von heute ähnlich vorzukommen scheint, wie
Simplicissimus im dreißigjährigen Krieg oder wie Stif-
ter, als er sich den „Flochwald“ aussann. Dazu hat er
eine Neigung zu der Malerei, mit der sich der bequeme
Junker des friedlichen 18. Jahrhunderts in der Schweiz
sein Schlößchen zieren ließ, wenn er es nicht gleich
selber besorgte wie Gottfried Keller’s „Landvogt von
Greifensee“. Rüegg weiß dennoch Zeitsinn in seine
Schildereien zu bringen, und so erscheint sein Historis-
mus gerechtfertigt, umso mehr, als er von einer ausge-
suchten reizsamen Landschaftskunst begleitet ist.

So wirkt denn hier Land und Volk unter scheinbar
fremden Gewand sich deutiich, poesievoll und male-
risch aus. Und wie im deutschen Teil der Schweiz,
so geht auch im welsehen ein Geist der Sammlung um.
Ein B 1 a n c h e t wendet sich vom Cezannismus zum
stillen, großen, mit heutiger Wirklichkeit klug durch-
setzten Gobelinstil des 17. Jahrhunderts. Ein Bar-
r a u d malt die „Entführung der Europa“ mit Elemen-
ten der Malerei von Renoir und Matisse so kongenial der
Geschichte selbst, daß ein Aretin sein Palazzo damit
ausstaffieren könnte. Ein Auberjonois, der
Scharfsinnigste, Langsamste, Bedachteste, sich selber
gegenüber Unerbittlichste läßt die streng realen Bild-
nisse, die er ausstellt, von einer dunkelklaren Alter-
tümlichkeit und Geheimnisfülle umwittert sein, was
aber nicht hindert, daß die Zeichnung fest und die Male-
rei voll moderner Töne ist. Gedämpfter Renoir.

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