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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 4./​5.1922/​23

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1. Dezemberheft
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Schrader, Hans: Die thronende Göttin im Alten Museum zu Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.20303#0182

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Fig'ur und Tliron als Hinheit wirken, so liegt das nicht
wie an den milesischen Statuen an dem Zusammen-
hang der materiellen Masse, sondern an feinen Zügen
der Zeichnung, die an jenen wohl auch vorkommen,
aber doch nur zur Unterstützung des in der Hauptsache
schon durch die große Form erzielten Eindrucks. Dahin
rechne ich die gleichsam wie Klammern wirkenden, die
Seitenflächen des Thrones diagonal überschneidenden
Mantelzipfel, daliin aber auch die innere Gliederung
des Gewandes, die senkrecht herabgehende Mittelbahn
des Unterkleides, die beiden über die Knie gelegten,
ebenso senkrecht herabfallenden Zipfel des Ober-
kleides, die, in der Körpermitte wagrecht durch einen
Faltenknick durchschnitten, die Harmonie mit dem
rechtwinkligen Zimmerwerk des Thrones herstellen.
Dies aber, heute in seiner Wirkung durch die Zerstö-
rung von drei Thronfüßen wie der Rücken- und Seiten-
lehnen stark beeinträchtigt, hat ehemals der weich ge-
formten FrauengeStalt den festen, klaren Rahmen ge-
geben. Man würdigt das am besten in der Rücken-
ansicht (Abb. 3), in weicher der Thron weniger stark
beschädigt erscheint. Hier erkennt man auch, daß die
Außenkanten der Thronbeine wie der Rücklehne leise
nach oben auseinander weichen, genau wie die Gestalt
der Göttin sich von unten nach oben verbreitert. Klar
wird hier auch in besonderem Maße der unbeschreib-
liche Reiz der Marmorarbeit in dem Nebeneinander
großer glatter Flächen mit scharfgeschnittenen Kanteu
— des ganzen Stuhlgerüstes — und weicher, schwellen-
der Rundungen — des Kissens, der üppig geformten
Schultern, des in eine Haube. gefaßten Haarschopfes.
In die großen'Tlächen scharf und sicher eingesetzte
Innenzeichnung, wie etwa die sparsamen Falten des
Mantels, die Querfurchen dcr Haube, belebt das Bild und
gibt dem Ganzen bei aller Breite und Weichheit der
Form eine unvergleichliche Festigkeit der Haltung. Ge-
rade dieser Gesamteindruck der Flächenführung findet
sich in überraschender Ähnlichkeit wieder an den
Resten des eretrischen Giebels, aus denen wir das eine
Flauptstück, die Gruppe der Theseus, der die Ama-
zonenkönigin Antiope auf den Streitwagen hebt, heraus-
greifen. Prächtig steht in der Hauptansicht der Gruppe
(Abb. 4) der Kopf und die zupackende linke Hand des
Theseus gegen den in großen, ruhigen, sanft schwellen-
den Flächen gegebenen Körper der Amazone, den ein
eng sich anschmiegender Lederkoller bcdeckt, nach
unten scharf abgesetzt durch den wagrecht verlaufen-
den Rand des Kollers, unter dem, streng senkrecht, die
sparsamen Falten eines Untergewandes hervortreten.
Und weiter im Kopf des Theseus, auf den der Meister
seine ganze Liebe gewandt zu haben scheint, welche
Sicherheit in der reichen aber klaren ornamentalen
Durchbildung des Haares, welch starkes, freudiges
Leben in der blühenden, festen Form des Antlitzes, den
mandelförmigen, an den Lidern hin kräftig umschnit-
tenen Augen, der scharfkantigen, überaus bewegten
Zeichnung des Mundes! Ist man einmal auf die Ähnlich-
keit in der Gesamtbewegung der Form aufmerksam ge-
worden, so wird man, bei aller Verschiedenheit des
Vorwurfes, dort der ruhig thronenden Göttin, hier der

lebhaft bewegten Heldengestalten, auch im Einzelnen
überall verwandte Züge entdecken. Schlagend ähnlich
ist z. B. die Verkürzung der Unterleibes an der C.öttin
und am Theseus, die, da sie anscheinend an der Ama-
zone nicht oder nicht in gleichem Maße vorhanden ist,
vermutlich aus der Rücksicht auf die Wirkung in einer
bestimmten Aufstellung zu erklären ist, völlig gleich die
Auffassüng des weiblichen Körperbaus in der Göttin
und der Amazone — überaus breite und wuchtige, aber
weich gerundete Schultern, weit auseinander gerückte
kleine, spitze Brüste. Auch das Verhältnis des Körpers
zum Gewand ist hier und dort das gleiche: der Körper
wirkt in großen Formen durch das Gewand hindurch.
das sich eng an den Körper schmiegt und in sparsamer
Innenzeichnung Form und Bewegung des Körpers an-
deutet, Unterschneidungen eher vermeidet. Man ver-
gleiche etwa, wie in den Seitenansichten (Abb. 5 und 6)
die rechte Schulter und der rechte Oberarm der Göttin
unter dem Mantel, der Amazone unter dem bis zur Arm-
beuge reichenden Lederkoller sich modellieren. In der
Anwendung von Unterschneidungen geht die Göttin
weiter als die eretrische Gruppe, wie sie auch sonst
deutlich entwickelter ist als diese. Das zeigt sich am
klarsten in den Köpfen (Abb. 7 u. 8). Der der Göttin ver-
rät erste leise Spuren jener Beruhigung der Form, die
zum klassischen Gesichtstypus, dem „griechischen“
Profil geftihrt hat. Man darf sagen, daß er um eben-
soviel an unmittelbarem Leben eingebüßt habe, viel-
leiclit nicht ohne die Absicht des Bildhauers, der in die-
ser ausgeglichenen, gesänftigten Form göttliche Er-
habenheit auszudriicken trachtete. Aber überall glaubt
man noch die ältere, stärker sprechende, spitzigere
Form durchzufühlen, in dem leichten Heraustreten der
Nasenspitze und des Kinns, in dem Schwung des oberen
Augenlides, das ohne abzusetzen in die groß gezeich-
nete Thränendrüse übergeführt ist, vor allem in Form
und Zeichnung des Mundes, der flachen, mit straffer
Kurve umgrenzten Unterlippe und der ein wenig volle-
ren Oberlippe, die beiderseits, ein Stückchen vor den
Mundwinkeln, über die Unterlippe übergreift. Überaus
ähnlich ist auch die Art wie das sehr große Ohr hier und
dort gleicli schön und lebendig durchgebildet, ganz frei
aus der künstlichen Frisur hervortritt.

Von der Künstlerinschrift der eretrischen Gruppe
sind wenige Buchstaben auf eincm Fragment vom Rad-
kranz des Streitwagens, auf den Theseus seine Beute
hebt, erhalten — ähnlich wie der vermutlich auch pari-
sche Künstler des Gigantenkampf-Frieses von einem
der delphischen Schatzhäuser seinen Namen in ver-
schnörkelter Schrift rings am Rande eines Schildes an-
gebracht hat. Es ist nicht unmöglich, daß einmal ein
glücklicher Fund an der Stätte des Apollotempels in
Eretria fehlende Teile der Inschrift hinzubringt und uns
Namen und Heimat des großen Künstlers verrät, dessen
jugendlich starkes und bezwingendes Werk wir in
Bruchstücken bewundern. Den Namen des Meisters
der Berliner Göttin zu erfahren, ist wenig Hoffnung —
daß er jenem nahe gestanden und wie jener der pari-
schen Schule angehört habe, ist meine feste Über-
zeugung.
 
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