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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 4./​5.1922/​23

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2. Aprilheft
DOI Artikel:
Kirchner, Joachim: Die Federzeichnungen der Berliner Magelonehandschrift
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https://doi.org/10.11588/diglit.20303#0414

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Aus der Berliner Handschrift.
Der Geier entfiihrt die Ringe

stellung der Pferde hervor; alle anatomischen Beobach-
tungen sind hier der stilisierenden Tradition zum Opfer
gefallen. Am offensichtlichsten ist die mittelalterliche
Gesinnung in der Behandlung des landschaftlichen
Elements erkennbar, wo bei der Darstellung der Berge,
der Bäume, des Wassers und des Erdreichs alle rea-
listischen Momente geflissentlich negiert sind.

Erst das von der Renaissance heraufgefiihrte
Natur- und Weltgefühl drängte nach individueller Be-
stimmtheit, nach persönlichem Erleben und Gestalten
der Dinge. Der mittelalterlichen Gebundenheit folgte
plötzlich eine Epache der Freiheit und Selbständigkeit.
Der Künstler macht sich los von allen beengenden
Fesseln, er studiert die Natur und sucht sie in persön-
licher Weise zu deuten. Die Illustrationen der Berliner
Magelonehandschrift sind fiir diese Wandlung charakte-
ristisch. Das zeigt sicli zunächst einmal bei den
Figuren. Aus dem Geiste der Erzählung geschöpft und
nach lebendiger Naturanschauung gebildet, scheint sie
ein reiches seelisches Leben zu umströmen, da wo sie
agierend oder zu einander gesellt und mit einander
sprechend auftreten. Dem harten beziehungslosen Ne-
beneinander ist ein geistig verbundenes Zueinander ge-
folgt. Auch in jenen Szenen, in deneri eine größere Zahl
von Figuren auftritt, ist iin Sinne der Renaissancekunst
trotz der Kleinheit der Bilder eine klare Gruppierung
unter Heraushebung der Hauptpersonen durchgeführt.
Man beobachte daraufhin die beiden Turnierbilder; hier
ist die Bewegung bei dem Zusammenstoß der Kämpfer
nicht minder gut beobachtet als die Anteilnahme der
Tribiine an den Kämpfen lebendig erfaßt wurde.

Ganz besonders reizvoll ist der Illustrator in den
Landschaftsgriinden. Aus ihnen spricht eine liebevolle
Versenkung in die Natur, eine bereitwillige Einstellung
auf die in der Dichtung gegebenen Situationen. Vor
allem muß hier die Landschaft von Maguelonne auf-
fallen, deren Panorama weit über die im Text vorhan-
denen Andeutungen das Aussehen dieser Insel genau

wiedergibt. Diese Tatsache ist merkwürdig genug, aber
es wäre zu gewagt, auf die Autopsie des Zeichners einen
Schluß ziehen zu wollen. Immerhin ist die lokale
Situation auch in anderen Bildern gewahrt, so bei der
Kirchenszene in der Peterskirche, die dem Wortlaute
der deutschen Erzählung nach sich vor der Petersstatue
abspielt. Bei aller Skizzenhaftigkeit der Zeichnung sjnd
doch die wesentlichen Merkmale des bekannten Bronze-
bildes charakterisiert. Hier, wie in den anderen Kir-
chenszenen ist das tiefenhaft räumliche Moment glück-
lich gelöst. Keiner der Innenräume gleicht dem andern
wie in den französischen Drucken, überall gelang es
dem Künstler, bei der Darstellung ähnlicher Szenen zu
variieren und neu zu gestalten. Es ist eben der frische
Hauch einer lebendigen, individualisierenden Kunstan-
schauung, der hier unmittelbar aus jedem Bildchen
spricht. Es offenbart sich die gestaltende Kraft einer
Persönlichkeit, die die Schranken des Mittelalters über-
wunden hat, und die es versteht, die Natur mit freiem,
geistigen Inhalt zu erfüllen. Die Besonderheit der sehr
charakteristischen, skizzenhaften Handschrift des
Zeichners rückt diese Illustrationen in den Umkreis
Albrecht Altdorfers und Wolf Hubers. Jedenfalls ist es
unverkennbar der Stil der Donauschule, iu denr Land-
schaften und Figuren ihre Gestaltung fanden.

Abgesehen von den Illustrationen, die dem Kunst-
historiker neues Material für die Kenntnis des Donau-
stils an die Hand geben, hat der Literarhistoriker die
interessante Feststellung zu machen, daß die deutsche
Magelonehandschrift der Preußischen Staatsbibliothek
nicht auf einer französischen, sondern auf einer italieni-
schen Ouelle basiert. Hermann Degering, dem Bear-
beiter und Herausgeber der Berliner Handschrift, ist
nach eingehender Prüfung der Quellen und ihrer
sprachlichen Eigentümlichkeiten der Beweis geglückt,
daß nicht nur die vorliegende deutsche Magelonehand-
schrift, sondern auch die französischen Redaktionen auf

Aus der Berliner Handschrift.
Die verlassene Magelone

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