Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,1.1925-1926

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1925)
DOI Artikel:
Bruns, Marianne: Jean Paul: zu seinem 100. Todestag
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7999#0094

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Danach aber verschwand Jean Paul sast gänzlich aus dem Leben scines Volkes.
Kaum, daß man bei seinem Namen sich erinnerte: er war etwas. Und erst heute,
hundert Jahre nach seinem Tode, blättern wir wieder >n seinen vergilbten Büchern
und horchen aus, geben sie neu heraus und reden davon.

Unsere Zeit — ein wenig schreiend, ein wenig überheblich, größenwahnsinnig nnd
unbeherrscht — neigt dazu, einen tugendliebenden Bürger über die Schulter anzusehen
und den genialisch angehauchten Wirrsinnigen in den Himmel zu heben. Sehr zu Un-
recht. Wer dürste wagen, Wertrichter zu sein über den genialen Moralisten und den
genialen Schöpser: scheint es unS in der einen Stunde anspruchsvoll und klein, Gokt
und die Welt zurechtzubiegen sür den armen Menschen, und größer, sich zu verlieren
und demütig zu überlassen der rätselhast schassenden Krast, so scheint doch in einer
anderen Jesus von Nazareth, der vollkommene Mensch, einflußreicher alö jeder, der
ein unvollkommenes Bruchstück Schöpsung ans sich herausstammelt.

Jean Paul kann unS heute etwas lehren, was wir sast vergessen haben: den Tugend-
liebenden voll Güte, den Tugendliebenden voll Geist. Merkt ans, die ihr im Sturme
des Schöpsertaumels herumgeworsen werdet und keine Handhabe sür ener Leben
sindet, haltet euch sest: dort ist einer, der nichts so sehr wollte, als ein „guter
Mensch" sein, und dem es gelang. Heitere und kluge Zeichen dieses Wollens pnd
Gelingens, seine Werke, sind zurückgeblieben und reden heute so lebendig davon wie
damals zu jedem, der will, was ihr Dichter wollte.

Jean Paul ist 176Z zu Frühlings Ansang in Wunsiedel am Fichtelgebirge geboren,
aber 176Z schon zogen seine Eltern nach Joditz bei Hof und blieben dort bis 177Z,
so daß man also dieses Dörflein — so klein, daß eS in Andrees Handatlaö nicht ein-
mal zu sinden ist -— als Dorbild seiner vielen ländlichen Jdyllen ansehen muß.
Sein Dater war Geistlicher. Psarrer sein, hieß in jener Zeit allerhand sein, und
gab Möglichkeiten zu verschnörkelten Charakterbildungen, wie sie auch jeneö srommen
Manneö Wesen ossenbar durchsetzt haben: er war zugleich Schuloberster und Orga-
nist, war abhängiger Knecht seines adligen Kirchenpatrons, und doch selber Herr
über ein Stück Land und sronpslichtige Bauern. Nahezu verrückt, wcnngleich
liebevoll hat er seine Kinder behandelt: er ließ sie Vokabeln, Konjugationen, Dekli-
nationen, Regeln lernen ohne jede Erklärung. Den Katechismus auf dieselbe er-
klärungslose Art. Das war alles. Nicht eine Note, nicht einen Schein Mnsik, ob-
wohl er selber viel von Musik verstand, und sein Sohn danach dürstete, brachte
er ihm bei. Jean Pauls sehr rascher, sehr begieriger, sehr phantastischer Geist schlän-
gelte sich wuchernd um die salzsäulenartigen Bruchstücke herum, die sein Vater ihm
ausstellte. Wenn man sich diese Erziehungsmethode vorstellt, verzeiht man dem
späteren Dichter manches Geschwätz. 177Z endlich, als die Familie nach Schwar-
zenbach a. d. Saale kam, wurde er, dreizehnjährig, in eine regelrechte Schule ge-
geben. Doch scheint auch der neue Lehrer einigermaßen vcrdrehte Methoden gehabt
zu haben. Jedensalls überflügelte Jean Paul sehr bald seine Weishciten und redete
den Verblüfsten in Grund nnd Boden. 1779 bezog er das Gymnasium in Hof,
1781 die Universität Leipzig. Sein Dater war indessen gestorbcn, und Jean Paul
war ein blutarmer, junger Kerl nnd schrieb Satiren, in der Hossnung, sie möchten
Geld bringen. Er verscherzte sich die Zuneigung der Mitbürgcr durch ungewöhnliche
Kleidung und sloh schließlich vor Schulden, arm und elend, zur armen Mutter nach
Hos zurück. Er hatte das Studium der Theologie längst ausgegeben. Er spielte
denkerisch mit Skepsis und schrieb dementsprechend. Die „Grönländischen Prozesse"
brachten plötzlich Geld ins Haus. Aber noch währte der Ersolg nicht. Jmmer in
Armut, in der engen Stube der Mutter beim Geschwätz der Nachbarinnen und der
Geschwister oder in wechselnden Hauslehrerstellen schrieb und schrieb er. 1786 kam

79
 
Annotationen